Kreis Esslingen. Bernhard Block teilt die Unfallflüchtigen in drei Gruppen: die Überforderten, diejenigen, die um ihren Führerschein fürchten, und die Gewissenlosen. In 30 Berufsjahren hat der Leiter der vierköpfigen Ermittlungsgruppe für Verkehrsunfallfluchten bei der Polizeidirektion Esslingen schon ungezählte Leute ermittelt, die nach einer Kollision einfach davongefahren sind. Fast alle passen in eine dieser Schubladen. Die Überforderten sind oft Senioren, die schlecht hören oder sehen und von dem Zusammenstoß zum Teil gar nichts mitbekommen haben. Betrunkene und Fahranfänger suchen oft das Weite, weil sie um ihre Fahrerlaubnis fürchten. Und dann gibt es noch diejenigen, denen alles egal ist und die sich im Fall der Fälle eben einen guten Anwalt suchen.
12 997 Unfälle hat die Polizei im vergangenen Jahr im Landkreis Esslingen registriert, in 2 943 Fällen, also beinahe bei jedem vierten Unfall, ist der Verursacher davongefahren. Besonders häufig passiert das bei kleineren Blechschäden: „Das Gros sind die typischen ,Spiegelklatscherunfälle‘ oder Zusammenstöße beim Einparken“, sagt Bernhard Block. Doch auch bei Unfällen mit Verletzten kommt es vor, dass sich der Verursacher aus dem Staub macht. So wurde zum Beispiel vor einem Jahr in Kemnat ein siebenjähriges Mädchen auf einem Zebrastreifen von einem Auto erfasst und verletzt. Die Fahrerin des Wagens, eine 60-jährige Frau aus Ostfildern, wurde später aufgrund von Zeugenhinweisen ermittelt. Insgesamt gab es 2012 im Landkreis laut Polizei 90 Leichtverletzte und neun Schwerverletzte bei Unfällen mit Fahrerflucht.
Am besten stehen die Chancen auf Aufklärung, wenn es verwertbare Zeugenhinweise gibt. Dass sich Augenzeugen das Kennzeichen notiert haben, kommt aber nicht allzu oft vor. Und wenn, muss die Kombination nicht unbedingt stimmen: „Aus einem F wird schnell mal ein E und aus einer 8 eine 9“, weiß Block aus Erfahrung. Bei der Recherche nach dem richtigen Fahrzeug kalkuliert er solche Fehler deshalb schon einmal ein. Noch schwieriger wird es, wenn kein Kennzeichen, sondern nur eine Beschreibung des Wagens vorliegt. „Die Autos werden sich ja immer ähnlicher“, sagt der Experte. Ob es sich bei dem flüchtenden Fahrzeug um einen Peugeot 207 oder 307 handelt, könne ein Laie auf die Schnelle kaum unterscheiden.
In vielen Fällen gibt es allerdings gar keine Zeugenhinweise. Dann bleiben den Ermittlern nur die Spuren am Unfallort: Lacksplitter, Scherben von Scheinwerfern oder abgerissene Teile können Hinweise auf das Fahrzeug des Verursachers geben. Bei der Auswertung solcher Spuren greift die Polizei auf modernste Technik zurück: Experten im Landeskriminalamt untersuchen zum Beispiel kleinste Lacksplitter unter dem Rasterelektronenmikroskop und können den Lackaufbau, der zum Teil aus acht oder neun Schichten besteht, dabei so genau analysieren, dass sie ihn nicht nur einem bestimmten Fahrzeugtyp zuordnen, sondern auch sagen können, ob er von einem ganz bestimmten Auto stammt. Klar ist allerdings auch, dass ein solcher Aufwand nicht bei jeder kleinen Schramme betrieben werden kann: „Die Verhältnismäßigkeit muss stimmen“, sagt Bernhard Block.
Wenn es der Polizei gelingt, ein verdächtiges Fahrzeug ausfindig zu machen, geht es darum, zu beweisen, dass es tatsächlich an dem Unfall beteiligt war. Die vier Beamten der Ermittlungsgruppe stellen dafür zunächst die Fotos der mutmaßlich beteiligten Autos am PC einander gegenüber. Erhärtet sich der Verdacht, wird die Unfallsituation mit den Originalfahrzeugen nachgestellt. Dabei zeigt sich dann, ob die Schäden an den Fahrzeugen zusammenpassen oder nicht. Die Ermittler dürfen sich allerdings nicht immer auf den ersten Anschein verlassen: „Einmal hatten wir einen Fall, bei dem die Beschädigungen am Verursacherfahrzeug mehrere Zentimeter höher waren als bei dem beschädigten Auto“, erinnert sich Block. Die Ermittler fanden aber heraus, dass das Auto während des Unfalls mit Zementsäcken beladen war, deshalb hing es damals tiefer in der Federung.
Ist eine Unfallflucht bewiesen, drohen dem Fahrer empfindliche Strafen. „Die Fälle landen grundsätzlich beim Staatsanwalt“, sagt Bernhard Block. Neben einer Geldstrafe müssen die Verursacher mit einem Fahrverbot oder sogar mit dem Entzug ihres Führerscheins rechnen.
Oft behaupten die überführten Täter, sie hätten von der Kollision nichts mitbekommen. Bei kleinen Streifschäden sei das unter Umständen möglich, sagt Block, bei einem Aufprall aber nicht. Im Zweifel muss ein Sachverständiger prüfen, wie glaubhaft eine solche Behauptung ist. Manchmal entlarven sich die Täter aber auch selbst: zum Beispiel wenn es Zeugen gibt, die beobachtet haben, wie der Verursacher kurz gebremst und aus dem Fenster geschaut hat, ehe er davongefahren ist.