Eine Prophezeiung, deren Tragweite dem Schreiber selbst nicht bewusst sein konnte, zitierte der Teckbote am Freitag, 11. Juni 1886, aus einer Zeitung mit dem abgekürzten Titel „F. J.“ Darin heißt es: „Die nächsten Tage werden für Bayern bewegende Ereignisse mit sich bringen, die eine tiefgreifende Veränderung bedeuten müssen.“ Das bewegendste Ereignis folgte bereits am 13. Juni 1886: König Ludwig II. von Bayern kam im Starnberger See ums Leben, was aber zwei Tage zuvor noch keiner hatte ahnen können.
Bei der zitierten „tiefgreifenden Veränderung“ war es zwar „nur“ um die geplante Absetzung des Königs gegangen, aber eben auch um nichts weniger als die Absetzung eines Königs. Das wäre selbst heute noch in einer der europäischen Monarchien kein leichtes Unterfangen. Viel schwieriger aber war es in einer Zeit, in der die Formulierung „König von Gottes Gnaden“ noch durchaus ernst genommen wurde. An den Herrscher Hand anzulegen, war gleichzusetzen mit einer Auflehnung gegen Gott und gegen die Weltordnung, die gleichfalls als gottgegeben galt.
Deswegen war am 11. Juni 1886 im Teckboten auch nicht von der „Absetzung“ König Ludwigs II. die Rede, die tags zuvor – am 10. Juni 1886, also heute vor 125 Jahren – erfolgt war. Vielmehr heißt es im gebotenen devoten Ton: „Es liegt ja die Annahme nahe, daß die Besprechung der Minister mit dem Prinzen Luitpold sich darum drehte, in welcher Form an den König das Ansuchen zu richten sei, er möge für die Dauer seines Leidenszustandes eine Regentschaft einsetzen.“
Der „Leidenszustand“ sollte nicht mehr allzu lange andauern, auch wenn es eben niemand ahnen konnte, wie sich die Ereignisse innerhalb weniger Tage überschlagen würden. Aber bis heute, 125 Jahre danach, gibt es erhitzte Diskussionen um eben diesen „Leidenszustand“ des Märchenkönigs: Die einen glauben nach wie vor, dass Ludwig II. von Bayern psychisch krank war, und erklären seinen Tod im Starnberger See durch Suizid, während die besonders Königstreuen immer noch von einem Komplott ausgehen, das mit einem Mord endete.
Auch diese Beschäftigung mit dem Tod des gleichermaßen volkstümlichen wie geheimnisumwitterten Monarchen, die ununterbrochen anhält, hat der Teckbote bereits damals vorausgesagt, als er am 17. Juni 1886 schrieb: „Wir stehen unter dem Eindruck eines Herz und Geist auf‘s Tiefste erschütternden Ereignisses. Fast versagt die Feder den Dienst. Gegenwart ist uns, was noch die späteren Geschlechter, wenn sie es aus der Ueberlieferung der Geschichte entnehmen, mächtig bewegen wird.“
An der Todesursache und an der psychischen Verfassung Ludwigs gab es allerdings in dieser Zeitungsausgabe keinen Zweifel. Weiter im Text: „König Ludwig II. von Bayern [...] hat in geistiger Umnachtung den Tod in den Wellen des Starnberger Sees gesucht und gefunden.“ Und weiter unten wird es noch deutlicher: „Ohne Schuld, ohne Not überfiel ihn eine Krankheit des Geistes, Trübsinn und Menschenfurcht, so daß die Staatswohlfahrt dringend eine stellvertretende Verwaltung des Thrones erheischte.“
Dramatisch wird anschließend der Tod geschildert, auch wenn es zunächst ganz idyllisch beginnt: „Der König unternimmt einen Spaziergang auf den stillen Wegen des nach allen Seiten streng abgeschlossenen, nur nach der Seeseite offenen Parkes, welcher das Schloß Berg in seinen traulichen Schatten hüllt. [...] Plötzlich wird der Leidende des stillen Ufers und der leise wogenden Fläche des vielgeliebten Sees ansichtig; die finsteren Geister des Irrsinns überwältigen ihn; [...] der bejahrte Arzt an seiner Seite ist zu schwach, ihn zurückzuhalten; die Spuren eines verzweifelten Ringens zeugen von der Pflichttreue des Arztes, die über das Leben hinausreichte; vom Parkwege zum Ufer sind an mehreren Stellen nur wenige Schritte und das Ufer fällt ziemlich abschüssig in den See. Noch ein schrecklicher Augenblick und – die Fluten nehmen den Leib des Königs auf, bereiten ihm die Erlösung, die sein edler Geist in der Umnachtung gesucht hat. Der treue Diener [gemeint ist der Arzt Bernhard von Gudden] verläßt seinen Herrn nicht; bis zum letzten Atemzuge bemüht, ihn zu retten, – stirbt er mit ihm.“
Die Verschwörungs- und Rettungstheorien blühten aber schon damals auf. In derselben Ausgabe vom 17. Juni 1886 druckt der Teckbote einen drei Tage alten Augenzeugenbericht aus München: „Die Mittagszüge bringen enorme Menschenmassen nach der Hauptstadt. Die Aufregung wächst rapid, die Straßen sind außerordentlich belebt. Soeben sah ich eine blau-weiße Schleife mit der Inschrift: ,Hie Bayern, hie Ludwig‘, welche die Führer jener Gebirgsbewohner getragen haben, welche gestern den König befreien und über die Grenze nach Tirol retten wollten. [...] Ein Diener namens Hesselschwerdt soll dem König Mitteilung über den Plan der Gebirgler gemacht haben. Eine Stunde vor beabsichtigter Ausführung geschah das gräßliche Unglück.“
Die Zeitungen müssen damals ein Extrablatt nach dem anderen gedruckt haben. Weitere Informationsmöglichkeiten wie Radio, Fernsehen oder gar Internet gab es noch nicht. Eines aber funktionierte so gut wie eh und je: die Gerüchteküche. Wohl derselbe Korrespondent aus München befördert zunächst die Gerüchteproduktion, indem er von einer „verblüffende[n] Zeitdifferenz zwischen der Auffindung der Verunglückten, den Wiederbelebungsversuchen und dem Tod“ schreibt. Dann aber scheint er sich in seinem Bericht aus München eher zu beklagen: „Geradezu entsetzliche, nicht wiederzugebende Gerüchte durchschwirren die hoch erregte Stadt.“ Aber zumindest eines dürfte sicher sein – die Reaktion des Volkes fiel wohl so aus wie immer, zuletzt vor allem nach dem tödlichen Unfall von Lady Diana vor 14 Jahren: „Die Landleute durchziehen weinend und jammernd die Straßen“, berichtet der Teckbote 1886 aus der bayerischen Hauptstadt. Ähnliches galt bei der öffentlichen Aufbahrung von Ludwigs Leichnam, über die der Teckbote am 18. Juni 1886 schreibt: „Die Anordnungen der Behörden waren gegenüber dem kolossalen Andrange des Publikums aus der Stadt und aus der Provinz gänzlich unzureichend.“
Aus Stuttgart berichtet im Teckboten vom 16. Juni 1886 dagegen ein Journalist, der sich zwar „tieferschüttert“ über den Tod des „kaum 41 Jahre alten Königs Ludwig II. von Bayern“ zeigt, der aber tags darauf bereits sehr sachlich und distanziert feststellt: „Gerade wenn solche Idealisten, wie ein Ludwig II., einen Thron einnehmen, lernt man die unermeßliche Wohlthat einer Verfassung schätzen.“ Nicht nur Ludwigs jüngerer Bruder Otto sei „als irrsinnig im Gewahrsam seit er kaum die Knabenschuhe vertreten“, schreibt der Teckbote unter dem Stuttgarter Zeichen, sondern auch Ludwig sei „offenbar schon vor vielen Jahren an seinen Geisteskräften selbst zweifelhaft geworden. Nur so erklärt sich die plötzliche Aufhebung der rasch geschlossenen Verlobung mit seiner Base, der Tochter des Herzogs Max in Bayern und der Schwester der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Von jener Zeit an vermehrten sich die kaum zu begreifenden Thaten des Königlichen Sonderlings.“
Wie ging es nun in Bayern weiter? Es folgte die von vornherein angedachte Regentschaft von Ludwigs und Ottos Onkel Luitpold. Statt für den verstorbenen Ludwig vertrat Luitpold auf dem Thron nun eben Ludwigs Bruder Otto. Im Originalton des Stuttgarter Teckboten-Korrespondenten klingt das folgendermaßen: „Der so tragisch verwaiste Thron wird aber nicht von Luitpold I. als König von Bayern bestiegen; dieser bleibt Prinz-Regent bis der wahnsinnige Otto, der jetzt König ist, gesund oder tot ist.“
Eine ebenfalls weitreichende Folge von Ludwigs Tod wird erstmals im Teckboten vom 23. Juni 1886 kurz erwähnt: „Nach Beendigung der Hoftrauer sollen die bis jetzt streng abgeschlossenen Schlösser Ludwigs II. dem Zutritt des Publikums geöffnet werden.“ Im Teckboten folgen im Lauf der nächsten Tage Berichte über die Schulden, die Ludwig II. angehäuft hatte, über den Wert des Schmucks, den er hinterlassen hatte, aber auch – am 26. Juni 1886 – eine erstaunliche Nachricht über einen Gewinn, der beinahe zwangsläufig mit Ludwigs Tod gemacht wurde, denn außer den Zeitungen gab es eben doch noch ein weiteres Medium zur Verbreitung von Nachrichten: „Infolge der Katastrophe in Bayern und der damit verknüpften Vorgänge hat die Telegraphen-Anstalt eine außerordentliche Einnahme von über 60 000 Mk. gehabt, woraus sich schließen läßt, welche Masse von Telegrammen zu behandeln waren.“
Am 2. Juli 1886 schließlich taucht im Teckboten die erste Meldung aus München auf, die definitiv nichts mehr mit dem Tod des Königs zu tun hat, aber dennoch urbayerisch wirkt: „In der Hofgartenkaserne in München kam es kürzlich zwischen 2 Soldaten des Infanterie-Leibregiments zu Streitigkeiten, in deren Verlauf einer derselben seinen Gegner mittelst eines Literkruges derart verletzte, daß dieser im Verlauf einer halben Stunde starb.“ Hier handelt es sich wohl auch um einen spektakulären Todesfall in Bayern. Im Gegensatz zu seinem König Ludwig dürfte der unbekannte Soldat aber mit seinem 125. Todestag kaum weltweite Beachtung finden.