Beim Treff der russischsprachigen Seniorinnen können sich die Frauen mit Gleichgesinnten austauschen
Fremde Heimat

Kirchheim. Auf der Kaffeetafel in der Begegnungsstätte der Silbernen Rose stehen Platten mit Käse- und Streuselkuchen, dazwischen Teller mit „chworost“, einer russischen 


Antje Dörr

Spezialität. Auf die Frage, wie die hauchdünn ausgewellten, frittierten Eierteigstücke auf Deutsch heißen, zuckt Julia Mammadova mit den Schultern. „Wir haben ein deutsches Wort gesucht, aber keines gefunden“, sagt die Leiterin des Treffs für russischsprachige Seniorinnen.

Russisch sprechen. Alte Sitten pflegen. Das sind zwei Gründe, wa­rum die russischsprachigen Seniorinnen zwei bis drei Mal im Monat zusammenkommen. Mit ihren Männern, Kindern und Enkelkindern sind sie vor Jahren aus der Ukraine, aus Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Weißrussland und Russland nach Deutschland ausgesiedelt. Die meisten sind deutschstämmig. Doch wer sie deutsch sprechen hört, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. „Die Frauen sprechen noch das Deutsch ihrer Großeltern“, sagt Gertraud Sieler, Ehrenamtliche beim städtischen Altenhilfeverein buefet, der den Treff unter seine Fittiche genommen hat.

Der Treff ist mehr als ein wöchentlicher Kaffeeklatsch, sagt Roland Böhringer, der an diesem Morgen bei den Frauen zu Gast ist. Der Leiter des städtischen Amts für Familie und Soziales betont, wie wichtig es ist, dass die Seniorinnen in ihrem Alltag unterstützt werden. Nicht immer sind Kinder oder Enkel vor Ort, die sich kümmern können. Nur noch vier der Frauen haben Ehemänner, alle anderen sind Witwen. Zu den Belastungen des Älterwerdens komme der Migrationshintergrund erschwerend hinzu, sagt Böhringer. Das heißt: Wer kein Deutsch spricht, für den ist ein Arztbesuch oder ein Termin auf dem Rathaus eine riesige Herausforderung. Julia Mammadova und Elvira Gehl, die die Gruppe leiten und sowohl deutsch als auch russisch sprechen, nehmen die Frauen deshalb an die Hand, begleiten sie zu Arztbesuchen oder aufs Amt und übersetzen. Außerdem gehen sie mit den Seniorinnen an Orte, die sie aus eigener Initiative vielleicht nie besuchen würden: ins Thermalbad nach Beuren, in die Wilhelma, zu Konzerten oder auf die Insel Mainau. Sie lesen mit ihnen Zeitung, erklären, wie das politische System funktioniert. Auf ihre alten Tagen lernen die Seniorinnen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.

Heimat. Das ist bei den russischsprachigen Frauen so eine Sache. Mina Vogel, eine regelmäßige Besucherin des Treffs, hat ein Gedicht geschrieben, in der die Zerrissenheit vieler Russlanddeutschen zum Ausdruck kommt. Heute trägt sie es vor. Eine Passage lautet: „In das fremde Land gekommen, weinen wir viel Tränen hier, weil sie uns ja hier nicht mögen, Russen sind wir eben hier.“ Deutschland, das sie nur aus den Erzählungen der Vorfahren kennen, fremd, und doch vertraut. Und dann der ewige Identitätskonflikt: In Russland waren sie immer nur die Deutschen, in Deutschland sind sie die Russen. Davon kann fast jede hier ein Lied singen. Während Mina Vogel das Gedicht vorliest, laufen bei vielen Frauen die Tränen.

Wenn man die Frauen nach ihrer Geschichte fragt, sprudelt es aus ihnen heraus. Jede hat ihre eigene Geschichte, aber alle sind aus denselben Bausteinen gemacht: aus Vertreibung, Gewalt, Hunger, Not, Demütigung und Verzweiflung. Mina Vogel, die vor 16 Jahren nach Deutschland kam, spricht ein altes, klangvolles Deutsch, das sich ein wenig wie Jiddisch anhört. Sie hat die Vertreibung nicht bewusst miterlebt. Vier Monate war sie alt, als sie und ihre Familie von der Wolga verschleppt wurden. An das Leben nach der Vertreibung kann sie sich detailliert erinnern. Besonders eingeprägt hat sich der Hunger, der die kleinen Kinder zu Bettlern werden ließ. In ihrem Gedicht beschreibt sie beispielsweise, dass es an manchen Tagen nur Unkraut zu essen gab.

Valentina Golomiez, die neben Mina Vogel sitzt, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Wir haben so viel Gras gegessen, so viel isst eine Kuh nicht. Wenn es kein Gras gegeben hätte, wären wir verhungert.“ Als der Krieg zu Ende war, ging es bergauf. Eines hat sie jedoch nie verlassen: das Gefühl, als Deutschstämmige ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Dieses Gefühl hat viele bewogen, nach Deutschland zurückzukehren.

Auch Valentina Golomiez kennt das Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein. „Am Anfang haben uns die Leute nicht angenommen. Sie haben gesagt: ‚Wir verstehen euch nicht. Ihr seid Russen‘.“ Das hat weh getan. Schließlich stammt Valentina Golomiez‘ Mutter aus Schwaben, der Vater aus Hessen. Dennoch fühlen sich die beiden Frauen in der neuen Heimat wohl. „Ich wollte immer zurück. Ich bin froh, dass ich hier bin“, sagt Mina Vogel. Valentina Golomiez ergänzt: „Wir haben keine große Rente. Aber sie reicht uns.“ Beide Frauen sind Witwen, aber sie haben Kinder und Enkelkinder, die für sie da sind. Der Treff russischsprachiger Seniorinnen bedeutet ihnen ebenfalls viel. Und doch überfällt sie manchmal das Heimweh nach Russland. „Ich weiß nicht, warum“, sagt Valentina Golomiez, der nun die Tränen in den Augen stehen. „Vielleicht weil wir in Russland jung und stark waren. Und jetzt sind wir alt.“