Kirchheim. Neun Jahre hatte sie Bestand, die Praxisgebühr. Sie trat am 1. Januar 2004 in Kraft, ins Leben gerufen von der rot-grünen Koalition im Bund. Zum 1. Januar 2013 strich die Koalition aus CDU und FDP einstimmig den Obolus von zehn Euro pro Kassenpatient und Quartal beim Arztbesuch wieder. Laut FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr ist die Praxisgebühr keine sinnvolle Eigenbeteiligung und habe ihren Zweck verfehlt, die Zahl der Arztbesuche zu reduzieren.
„Eine Steuerungswirkung war absolut nicht vorhanden“, bestätigt Thomas Schneider, stellvertretender Geschäftsführer der AOK Neckar-Fils. Er berichtet, dass die Kassen von der politisch erhofften Lenkungswirkung nichts gespürt hätten. Die hohe Zahl an Arztbesuchen pro Patient in Deutschlang im Jahr ist unverändert.
„Wir setzen auf Strukturverbesserungen und wollen nicht über Verbote oder ‚Eintrittsgebühren‘ die Arztbesuche steuern“, nennt Thomas Schneider den Denkansatz der AOK, den auch andere Kassen teilen. Konkret geht es um den mittlerweile durch verschiedene Facharztverträge ergänzten Hausarztvertrag. Er sorgt dafür, dass Patienten erst zum Hausarzt gehen und von dort weitergelotst werden. Diesen Grundgedanken verfolgte zwar auch die Praxisgebühr. Allerdings zeichnet den Hausarztvertrag auch eine Reihe von Vorteilen für alle aus, die daran teilnehmen, von der garantierten schnellen Terminvergabe bis zur wegfallenden Zuzahlung für rabattierte Medikamente. „Wir wollen eine aktive Patientenbegleitung erreichen, auch für chronisch Kranke“, fasst Schneider zusammen und resümiert: „Nur Strukturverbesserungen bringen auch die Qualität der Versorgung voran.“
Auf einem anderen Blatt stehen die wegbrechenden Einnahmen, denn die Praxisgebühr war durchaus ein wichtiges Finanzierungsinstrument im Gesundheitswesen. Allein in die Kasse der AOK Region Neckar-Fils spülte sie knapp neun Millionen Euro jährlich. – Einnahmen, die derzeit aus den Liquiditätsreserven des Gesundheitsfonds ausgeglichen werden, wie Schneider erläutert. Wie dies in Zukunft läuft, ist offen. Dennoch weint Schneider der Praxisgebühr keine Träne nach, sondern betont: „Wir freuen uns für die Ärzte, deren Personal durch den Wegfall der Gebühr jetzt entlastet ist.“
In der Tat: In den Arztpraxen herrscht große Erleichterung. An ihnen war es nämlich, die Gebühr einzutreiben und an die Kassen weiterzuleiten, die damit insgesamt rund zwei Milliarden Euro pro Jahr erwirtschafteten. „Durch den Wegfall der Praxisgebühr ist ein großes Stück Ärger und Bürokratie aus unseren Praxen verschwunden, denn das Inkasso war eine starke Belastung und immer wieder fehlte Geld, das niemand ersetzte“, berichtet Dr. Werner Baumgärtner, Vorsitzender des Ärzteverbandes Medi Baden-Württemberg, und betont: „Mein Praxisteam ist froh, dass dieser Unsinn vorbei ist.“
Was die Notfallpraxen anbelangt, rechnet Baumgärtner mit einem Anstieg der Patientenzahlen. Das Problem sieht er darin, dass die Krankenkassen den Notfallpraxen diese Mehrarbeit nicht automatisch bezahlen. Zusätzliche Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen werde nämlich nur im Rahmen der Hausarzt- und Facharztverträge bezahlt, in der Regelversorgung sei es aber so, dass jeder Arzt pro Patient einfach weniger Honorar bekomme bei steigenden Patientenzahlen. Auch die Ärzte machten sich Sorgen, wie es weitergehen solle, denn angesichts rückgängiger Praxenzahlen sei der Ansturm an Patienten schon jetzt kaum mehr zu bewältigen.
„Die Praxisgebühr war zu bürokratisch und zu aufwendig“, bestätigt auch der Kirchheimer Orthopäde Dr. Friedemann Tittor. Zwar war Ziel der Praxisgebühr, dass stets zunächst der Hausarzt angesteuert werden sollte, und der von dort den Patienten via Überweisung zum Facharzt weiterlotste. Manch einer kam jedoch direkt zum Facharzt, zahlte zunächst die zehn Euro, bekam diese aber nach Abgabe einer Überweisung wieder zurückerstattet. „Das war ein enormer Aufwand“, gibt der Orthopäde, der auch im Vorstand der Kreisärzteschaft aktiv ist, zu bedenken. Einen verstärkten Ansturm hat er seit 1. Januar nicht bemerkt: „Die meisten Ärzte arbeiten ohnehin an der Kapazitätsgrenze“, betont er und verweist auf entsprechende Wartezeiten für alle, die keine Notfälle seien: „Wir haben schließlich einen deutlichen Ärztemangel, keinen Ärzteüberfluss.“
Etwas mehr Fälle als sonst im ersten Quartal verzeichnet die hiesige Notfallpraxis, in deren Vorstand unter anderem Dr. Tittor tätig ist. Dort wird der Wegfall der Gebühr als enorme Erleichterung verbucht, gab es doch
immer wieder Diskussionen, ob es legitim sei, einem Notfallpatienten Geld abzunehmen.
Generell hat Tittor eher Zweifel daran, dass die Praxisgebühr viele Menschen vom Arztbesuch abgehalten haben könnte. Grundsätzlich hält der Orthopäde die Überlegung für nicht ganz falsch, dass Verursacher von Kosten zur Verantwortung gezogen werden müssten. Angesichts der demografischen Entwicklung werde nämlich die Politik langfristig nicht umhinkommen, die Patienten in höherem Maße an den Kosten zu beteiligen, die sie auslösen.
Diese Problematik bewegt auch die Politik. Nicht gerade ein militanter Gegner der Praxisgebühr ist der CDU-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexperte Michael Hennrich. Er argumentiert, dass die Gebühr einen Beitrag zur Finanzierung des Gesundheitssystems geleistet hat und vom Grundsatz her die Eigenverantwortlichkeit der Patienten fördern sollte. Dies hätte man weiterentwickeln können, beispielsweise mit regelmäßigen Zuzahlungen, natürlich immer im Rahmen der individuellen Belastungsgrenze. „Die Praxisgebühr barg zweifellos Fehler, doch ganz auf sie zu vernichten, war die falsche Konsequenz“, sagt das Mitglied im Bundesgesundheitsausschuss. So müsse die Problematik angegangen werden, warum der einzelne Patient in Deutschland häufiger zum Arzt geht als anderswo. Ganz sicher ist sich Hennrich in einem Punkt: „Die Kosteneffizienz in Deutschland kann noch viel besser werden.“
Dass auch die Ärzte nicht grundsätzlich gegen eine Praxisgebühr waren, unterstreicht Dr. Baumgärtner. Sie waren vor allem dagegen, das Inkasso zum Nulltarif zu übernehmen. Auch der Medi-Vertreter mutmaßt, dass über eine Zuzahlung zu medizinischen Leistungen nachgedacht werden müsse angesichts der älter werdenden Gesellschaft und besserer, aber teurerer Behandlungsmethoden. Zudem sei es besser, über eine Zuzahlung die Nachfrage zu steuern,
als etwa Leistungen zu verweigern oder den Arzt-Zugang zu erschweren wie in anderen Ländern. Aber: „Aktuell traut sich jedoch niemand an das Thema heran, was als neues Steuerungsinstrument kommen könnte.“