In der Woche vor Schuljahresende bekommen die Schüler ihre Zeugnisse, „Giftzettel“ haben wir sie zu meiner Schulzeit genannt.
Es ist enorm, welche Wirkung Noten auf Kinder und Eltern haben. Der Zeugnistag ist oft mit großem Erwartungsdruck verbunden. In vielen Familien wird man sich freuen über die von den Kindern erzielten Ergebnisse. Andere werden mit der Bilanz des Schuljahres einigermaßen leben können. Doch wird es auch Familien geben, in denen das Zeugnis eine Katastrophenstimmung auslöst und die Aussichten auf sechs Wochen unbeschwerter Sommerferienfreuden erheblich eintrübt.
Von der Punkband „Die Ärzte“ gibt es den pointierten Song „Junge“. Hören Sie doch mal rein, falls Sie diesen Titel nicht im Ohr haben. Mit feiner Ironie karikieren „Die Ärzte“ in diesem Lied den Erwartungsdruck, den Eltern auf ihre Kinder ausüben, weil sie verpasste Chancen ihres eigenen Lebens in den Kindern verwirklicht sehen wollen. Auch, dass das eifersüchtige Schielen ehrgeiziger Eltern auf die Leistungen der Mitschüler, die man seinen Kindern nur zu gerne als Vorbild hinstellt, verheerende Spuren in deren Seelen hinterlassen kann. Die Bewertung eines Menschen anhand seiner Schulzeugnisse ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Sie bildet nicht den Wert der Persönlichkeit ab. Strebsame und angepasste Schüler sind bequemer für ihre Lehrer, werden aber erfahrungsgemäß schnell vergessen. Interessanterweise bleiben Lehrern die „verhaltensoriginellen“ Schüler, die nicht unbedingt mit intellektuellen Glanzleistungen brillierten, für immer im Gedächtnis.
Zu jemandem stehen, auch wenn der etwas vermasselt hat, ist eine göttliche Eigenschaft. Für Martin Luther war es die Erfahrung seines Lebens, als er begriff: Gott ist nicht zornig auf mich. Er bestraft mich nicht. Er steht zu mir, auch wenn meine Leistungen ungenügend sind. Derselbe Martin Luther hat den Eltern ins Stammbuch geschrieben, dass es ihre ureigene Aufgabe sei, Gottes Liebe und Güte an ihre Kinder weiterzugeben. Damit will ich nicht sagen, dass es uns als Mutter oder Vater egal sein kann, welche Noten das Kind mit heimbringt. Gottes Güte weitergeben, heißt: Ich mache meine Zuwendung zu meinem Kind nicht davon abhängig, was mein Kind leistet, sondern zeige ihm, dass ich es lieb habe und ihm weiterhelfe, wo Unterstützung erforderlich ist. Unsere Kinder werden sich in Zeiten bewähren müssen, von denen wir heute noch nichts ahnen. Die Kraft und der aufrechte Gang, welche sie für ihr Leben brauchen, wird ihnen nicht aus Schulnoten erwachsen!
Margarete Oberle Pfarrerin der Julius-von-Jan-Kirchengemeinde Lenningen