Achtklässler fragen Zeitzeugen nach Krieg und Nachkriegszeit
Geschichte aus erster Hand

Ein soziales Projekt mit lebendigem Geschichtsunterricht zu verknüpfen, das war das Anliegen von Margot Plessing und Maria Cosic. Zum Schuljahresende hin haben sie gemeinsam mit den Schülern im „Project Generation“ eine Bilanz ihrer Zeitzeugenbefragung gezogen.

Andreas Volz

Kirchheim. Seit einigen Jahren gibt es an den Realschulen das „Themenorientierte Projekt Soziales Engagement“ (TOP SE). Achtklässler suchen sich dabei Einrichtungen aus, die vom Kindergarten über den Fußballverein bis hin zum Altenheim reichen können, und absolvieren dort Praktikumsstunden. Die Mithilfe in Altenheimen ist also nichts grundlegend Neues für TOP  SE. Neu dagegen war dieses Mal die Zeitzeugenbefragung, für die sich einige Schüler der Kirchheimer Realschulen – Freihof- und Teck-Realschule – sowie der Werkrealschule Dettingen freiwillig gemeldet hatten.

Beim gemeinsamen Abschlusstreffen im Bohnauhaus berichteten sie zunächst allgemein von ihren Heim-Erfahrungen. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, den Bewohnern Essen zu geben, sie zu Gottesdiensten oder Musiknachmittagen in den Veranstaltungsraum zu geleiten oder auch Spiele wie Mensch-ärgere-dich-nicht mit ihnen zu spielen. Die einen hatten Spaß an der Sache. Andere wiederum haben aus ihrer Sicht heraus weniger profitiert und sagten: „Wir haben eigentlich immer das Gleiche gemacht.“

Letzteres ist natürlich auch ein wichtiger Einblick in die Arbeitswelt, denn vieles im Arbeitsalltag wiederholt sich – und das nicht nur im Pflegeheim. Positive wie negative Erfahrungen können sinnvoll und nützlich sein. Ein Mädchen hat beispielsweise von einer besonders einprägsamen Erfahrung berichtet: Als sie wieder einmal zum vereinbarten Zeitpunkt ins Heim kam, musste sie erfahren, dass einer der Bewohner gestorben war. Aber auch das ist ein wichtiger Aspekt – vor allem bei der Arbeit mit älteren Menschen.

Was nur bei der Arbeit mit älteren Menschen möglich ist, das ist das Gespräch über den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit. „Das ist gelebte Geschichte, die spannender sein kann als jeder Geschichtsunterricht“, sagen die beiden Projektbetreuerinnen Margot Plessing und Maria Cosic. Sie wissen auch, wie dringend es war, jetzt mit so etwas zu beginnen: „Die Gelegenheit dazu haben wir nur noch wenige Jahre. Dann sind die Zeitzeugen nicht mehr da.“ – Selbst wenn es noch Menschen gibt, die sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern, wollen nicht alle darüber reden. Und auch bei denen, die grundsätzlich etwas erzählen wollen, gibt es Bedenken beim Personal oder bei Angehörigen, ob die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht zu aufwühlend sein könnte. Deshalb sei es auch vorgekommen, dass Gesprächsangebote bis zum Start des Projekts wieder zurückgezogen wurden.

Die Erlebnisse, von denen die Schüler erfahren haben, waren „so unterschiedlich wie die Menschen, die wir befragt haben“. Die einen mussten hungern oder haben sich immer wieder in den Luftschutzkeller geflüchtet, um den Bombenkrieg überleben zu können. Andere wiederum haben kaum je einmal einen Fliegerangriff aus nächster Nähe erlebt oder konnten berichten: „Zum Essen gab‘s bei uns immer genug.“ Ebenso unterschiedlich waren die Erfahrungen mit den Soldaten der Besatzungsmächte. Einer der Befragten hat zu diesem Thema einen entscheidenden Satz gesagt: „Es gibt überall gute und schlechte Menschen.“

Eine Frau hat auch berichtet, dass sie paradoxerweise dem Zweiten Weltkrieg die Erfüllung ihres Berufswunschs zu verdanken hatte: Sie wollte Lehrerin werden, was vor dem Krieg für ihre Familie undenkbar gewesen wäre. Nach dem Krieg hätten aber Lehrer gefehlt, und dadurch war es dieser Frau tatsächlich möglich, ihren Traumberuf auszuüben.

Vieles von dem, was die Befrager hörten, war für sie völlig neu. In einem der Gespräche, das sogar gefilmt wurde, fragte die Zeitzeugin bei ihren jungen Gesprächspartnern nach, ob sie alles verstehen. Begriffe wie „SA“ oder „Kristallnacht“ – wie es damals noch hieß – sagten den Achtklässlern in diesem Fall nichts. Für ihre Interviewpartnerin dagegen gehörte die SA zum Alltag, als sie Schülerin war. Und von der Reichspogromnacht wusste sie zu berichten, wie Menschen aus ihren Wohnungen geholt, auf Lastwagen geworfen und abtransportiert wurden. Auf eine wesentliche Frage vieler Nachgeborenen gab sie ebenfalls eine eindeutige Antwort: „Dass es Konzentrationslager gab, wussten wir. Aber Näheres wussten wir nicht. Die wenigsten sind zurückgekommen.“

Auch das Leben dieser Frau war in den letzten Kriegsmonaten bestimmt von Fliegeralarm und Luftschutzkellern, von zerstörten Straßenzügen oder von der lapidaren Bemerkung über viele Soldaten – seien es Väter, Brüder, Vettern, Nachbarn: „Vermisst in Stalingrad“. Lebensmittelmarken gehörten ebenfalls zum Alltag, auch noch lange nach Kriegsende. Die Marken sind für heutige Jugendliche aber so unbekannt wie Redeverbote oder Bespitzelungen. „Man durfte keine eigene Meinung haben. Man wusste aber genau, mit wem man reden konnte und mit wem nicht“, erklärte ihnen die Zeitzeugin.

Für die Schüler waren diese Zeitzeugengespräche sehr eindrücklich – selbst wenn es nicht allen gleichermaßen oder gar sofort bewusst geworden sein mag. Für Margot Plessing und Maria Cosic steht aber fest: „Auch wenn es für uns heute sehr schwierig ist, uns in diese Zeiten hineinzuversetzen, so ist es doch lohnend, sich damit zu beschäftigen. Es verändert unsere Sicht auf die Dinge. Es bewegt. Es macht das Leben tiefer und reicher. Wir glauben, dass es wichtig ist für die Alten und für die Jungen, darüber zu reden.“