Langsam wird‘s unheimlich: Die Grippe breitet sich wie eine mittelalterliche Seuche in geradezu gespenstischer Weise aus. Die Kollegin, die sich gestern noch kannenweise Kamillentee einverleibt hat, liegt heute flach. Der stämmige Getränkehändler, den im vergangenen Jahrzehnt kein Sturm umblasen konnte, wird von seiner Mutter vertreten. Im Großraumbüro reduziert sich die Belegschaft locker auf 25 Prozent. Mails werden zunehmend vom Krankenbett aus beantwortet. Hallo, läuft das draußen überhaupt noch jemand Gesundes rum?
Die Ausfälle sind beileibe nicht nur gefühlt, Zahlen sprechen eine klare Sprache. So stufen Behörden die Grippesaison in Deutschland bereits als „stark“ ein. Man muss bis 2008/09 zurückgehen, um eine vergleichbar intensive Influenza-Plage zu finden.
Ausgehend von nördlichen Gefilden schwappt die Grippewelle munter gen Süden. Auch Meere und Gebirge sind für sie kein Hindernis. Schon vor vier Wochen hat der Gouverneur von New York für seinen Staat den Grippe-Notstand ausgerufen. 20 000 Grippefälle wurden dort laut Ärzte-Zeitung seit Saisonbeginn notiert. – „Normal“ wäre maximal ein Fünftel davon.
Doch auch in Deutschland scheinen diesbezüglich längst amerikanische Verhältnisse zu herrschen: Über 21 000 Fälle zählt das Robert-Koch-Institut bislang in dieser Saison, Tendenz steigend. Während im Norden Deutschlands die Influenza-Aktivität wieder abzuebben scheint, geht‘s im Süden richtig rund. Aufgepasst: Unvermittelt kann jederzeit beim Kollegen am Schreibtisch nebenan das Geschniefe losgehen. Und das auch noch in einer Ära, in der einem Knigge-Fachleute nahezubringen versuchen, dass ein vernehmliches „Gesundheit!“ genau die falsche Reaktion ist auf einen herzhaften Nieser. „Körpergeräusche werden ignoriert“ heißt nämlich die Regel der Benimm-Fachleute.
Leichter gesagt als getan: Kirchheim und Umgebung liegen derzeit mittendrin im „roten Bereich“. Innerhalb kürzester Zeit streckt die echte Influenza ihre Opfer nieder (im Gegensatz zur schleichend daherkommenden Erkältung). Ganze Kindergartengruppen sind hier vereinzelt schon geschlossen worden, Veranstaltungen wurden abgesagt. Denn noch dramatischer als die Zahl der Grippe-Patienten scheint die Furcht vor der Infektion zu wachsen. Ausgedünnte Volkshochschulkurse und mäßig besuchte Kneipen belegen nicht nur die Ankunft der Grippewelle, sondern auch die Tatsache, dass manch einer vorbeugend lieber in den eigenen vier Wänden verweilt. Mit der selbst auferlegten Kontaktsperre erfüllt er exakt eine der Hauptempfehlungen der Mediziner, die da lautet „Menschenansammlungen meiden“. Dennoch hat das Verbarrikadieren auch etwas Beklemmendes, führt es doch zum Brachliegen des gesellschaftlichen Lebens.
Immerhin sind die Betroffenen heute längst nicht mehr so isoliert wie die bedauernswerten Seuchenopfer im Mittelalter. Das Internet macht‘s möglich: Kontaktpflege ohne Virenaustausch. Und das Beste dabei: Wenn sich ein Grippebetroffener outet, kann man ihm fern von Knigge und Co schriftlich genau das wünschen, was er jetzt am dringendsten braucht: „Gesundheit!“