Betrunkene, die sich nach dem Kneipen-Hopping auf der Reeperbahn anrempeln; Barkassenbesitzer, die an den Landungsbrücken um Kundschaft buhlen; oder Nackenschmerzen vom An-der-Elphi-Hochschauen - das alles gibt es in den Vier- und Marschlanden nicht. Im Osten von Hamburg führen Deichkilometer an der Elbe entlang, reihen sich Gewächshäuser aneinander und bestellen Bauern ihre Äcker. Stammt das Gemüse auf Hamburgs Märkten nicht aus dem Alten Land, so kommt es aus den Vier- und Marschlanden. Eine Region, die alle Vorstellungen von Hamburg erweitert wie Reisen den Horizont und deren Bewohner teils jahrhundertalte Traditionen ehren.
Als Besucher verfällt man in den Vier- und Marschlanden leicht der Illusion, dort stünde die Zeit noch still. Diese zerbröselt jedoch beim Besuch des Freilichtmuseums Rieck-Haus in einem alten Bauernhaus, wo Regionsgäste einen Anfängerkurs verpasst bekommen. Schanett Riller, Leiterin der Bergedorfer Museumslandschaft inklusive des Rieck-Hauses, behauptet sogar, in den Vier- und Marschlanden bewege sich mehr als im Zentrum. „Sie sind Hamburgs traditionelle Gemüsekammer, weil die Vierländer ganz schlaue Erfinder sind.“ Über mehrere Jahrhunderte hinweg habe man hier Landwirtschaft betrieben, Getreide angebaut und Bier gebraut, dann sei die Land- von der Gartenbauwirtschaft abgelöst worden.
„Die Vierländer haben viele Gartengeräte erfunden, zum Beispiel Erbsenpflanzer mit zehn Zacken, damit zehn Saatlöcher gleichzeitig fertig sind.“ Kein Wunder, dass diese schlauen Menschen zu Reichtum kamen - der sich unter anderem in teurer und aufwendiger Tracht voller Stickereien und mit Silberknöpfen widerspiegelte, die sich bis heute bei Feiern bewundern lässt. Ebenso wie über das gesamte Haus verteilte Schilder mit bekannten Redewendungen. „Ins Fettnäpfchen treten“ steht auf Hoch- und Plattdeutsch auf einem Schild über einem leicht identifizierbaren Fettnapf. „Die Hälfte aller Sprichwörter hat ihren Ursprung in Bauernhäusern“, so Riller. Man habe neben dem Küchenofen Schinken oder Speck aufgehängt, der Fett schwitzte. Damit es den Boden nicht besudelte, fing man es in einem Napf auf - trat aber im Dunkeln leicht einmal hinein.
Ist man nach dem Besuch des Rieck-Hauses um einiges Vier-und-Marschlande-Know-how reicher, kommt einige Kilometer weiter an der Riepenburger Mühle noch Mühlenwissen hinzu. Die heutige Holländer-Galerie-Windmühle mit Windgang entstand 1828 und ist laut Müller Axel Strunge nicht nur die älteste, sondern auch die größte erhaltene Kornwindmühle Hamburgs. Ihr Standort soll zu den ältesten in ganz Deutschland zählen, was eine Besonderheit ist, denn der Spruch „Das Wandern ist des Müllers Lust“ beziehe sich nicht etwa auf die Trekkingambitionen dieser Berufsgruppe. „Wenn an einem Standort nicht genug Wind wehte, zerlegte der Müller seine Mühle und baute sie andernorts neu auf“, sagt Axel Strunge.
Neben der Kornmühle steht eine kleine Ölmühle, wo traditionell Speiseöl produziert wird. „Man konnte nicht nur von einem Standbein leben, wenn nicht genug Wind war“, so Strunge. Besonders am Herzen liegt dem gelernten Dachdecker und Klempner, dass die Mühle im ursprünglichen Sinne erhalten wird. „Es soll hier genauso riechen und schmecken wie damals. Man steht mitten in der Maschine wie eine Puppe im Puppenhaus.“ Wer ganz viel Glück hat, ist an einem der etwa 60 Tage im Jahr vor Ort, wenn sich die Flügel der 1939 unter Denkmalschutz gestellten Mühle im Wind drehen.
Ist es im Rieck-Haus und in der Riepenburger Mühle vor allem Wissen, das man aufnimmt, sind es auf dem nahen Biobauernhof Eggers vor allem Kalorien - beim ausgedehnten Brunch am Wochenende, bei einem Grillfest oder einem anderen Festmahl vor der Kulisse von historischen Bauernhäusern. „Die Gebäude sind seit 1942 denkmalgeschützt, darunter zum Beispiel das älteste Wirtschaftsgebäude Hamburgs, ein alter Speicher, der ein kleines Werkzeugmuseum beheimatet“, erklärt der heutige Besitzer Henning Beeken.
„Hof Eggers, eine Insel im Strom der Zeit“, heißt das Motto des Bauernhofes, wo unter mächtigen Eichen schnell vergessen ist, dass Hamburgs Zentrum nur eine halbe Autostunde entfernt liegt. „Doch selbst eine Insel wird von Zeit und Gezeiten immer ein wenig angepasst“, philosophiert Beeken. Wer statt Weideblick echte Gezeiten erleben möchte, fährt die Elbe entlang zum Zollenspieker Fährhaus, wo früher der Zoll von Schiffen kassiert wurde. Heute ist es eine Gaststätte und ein Veranstaltungsort. Bei Nicht-Schiet-Wetter sitzt man im Biergarten mit Elbblick. Frachtschiffe und Boote gleiten vorbei und in der Luft schwirren Möwen, die gern etwas Fisch oder Wurst abhaben wollen.
Aber das ist so schwierig wie eine Dinnerreservierung im Pegelhäuschen nebenan - einem winzigen, etwa 1880 erbauten Holzhäuschen, das aus der Elbe ragt. Angeblich ist es das kleinste Restaurant der Welt mit Platz für zwei - was unzählige andere Gasthäuser weltweit allerdings auch sein wollen. Doch eine Region wie die Vier- und Marschlande in einer Millionenstadt wie Hamburg, die ist bestimmt einzigartig.