Wendlingen. Heimatvertriebene als die ewig Gestrigen zu bezeichnen, ist falsch. Die Heimatvertriebenen waren es, die bereits in der 1950 unterzeichneten Charta „die innere Kraft hatten, den Frieden zu bewahren“ und damit Mut, Glaubenskraft und Weitsicht zeigten, so Bischof Dr. Gebhard Fürst gestern im Festgottesdienst in St. Kolumban. Seit vielen Jahren schon richtet sich der Blick beim Vinzenzifest nach vorne, steht das Miteinander in Europa im Mittelpunkt.
Einen ganz anderen Blickwinkel auf die Geschichte, auf die Bedeutung von Heimat heute, wagte Knut Kreuch, Oberbürgermeister der thüringischen Stadt Gotha und Vinzenziredner des Jahres 2014. Und er erhielt für seine fesselnde Ansprache anhaltenden Beifall der vielen Gäste im Treffpunkt Stadtmitte. Sein Bekenntnis zur Heimat war deutlich: „Heimat hat Zukunft, Heimat mitten in Europa ist das Bewusstsein, mit dem Wissen der Geschichte jeden neuen Tag lebens- und liebenswert zu gestalten.“ Und zur Heimat gehöre die Tracht als wichtiger Farbtupfer der Gesellschaft. Die Tracht gehöre in die Mitte der Gesellschaft, sei Weltanschauung. Wer die Tracht trage, wo er zu Hause sei, der fühle sich wohl in der Gesellschaft und sei bereit, sich für die Allgemeinheit bürgerschaftlich zu engagieren, so Knut Kreuch.
Die Frage, ob Heimat zukunftsfähig sei, beantwortete Knut Kreuch mit einem klaren Ja, „und zwar jederzeit und jeden Tag und immer dann, wenn wir es wollen.“ Heimat solle nie politisch motiviert und schon gar nicht nationalistisch sein. Heimat habe Zukunft, gebe Halt. Heimat schaffe neue Verbindungen. Es sei ein großes Verdienst der Stadt Wendlingen, dass sie das Vinzenzifest, jenes Volksfest der Menschen, die einst als Fremde kamen, zum Heimatfest aller Bürger gemacht und damit Grenzen überwunden habe.
Was für den Vorsitzenden des Deutschen Trachtenverbandes persönlich Heimat bedeutet, das wurde den Gästen im Treffpunkt Stadtmitte gestern Mittag schnell klar. Mit engagierten und ausgesprochen launigen Worten zeichnete er ein geschichtliches Bild der barocken Metropole Gotha und wurde zugleich sehr nachdenklich, als er darauf hinwies, dass für ihn ein Besuch in Wendlingen noch vor einem Vierteljahrhundert nicht mit einer mehrstündigen Autofahrt zu bewältigen gewesen sei, sondern nur durch die Flucht. Dass die Menschen im Osten durch Friedensgebete und friedliche Demonstrationen den Weg zur Maueröffnung ebneten, sei für ihn das „Wunder seines Lebens“. Und da solle man nicht jammern über Löcher in Straßen, sondern dankbar sein dafür, dass es Straßen gebe, die uns zusammenbrächten.
Wer Heimat zukunftsfähig machen wolle, dürfe nie die Wurzel von Heimatverlust im 20. Jahrhundert, die Quelle von Vertreibung von Millionen von Menschen vergessen: „Wurzel dieses Dramas war und ist der deutsche Nationalsozialismus.“ Knut Kreuchs Mahnung für die Zukunft: „Heimat lehrt uns täglich, uns selbst nicht immer ganz so wichtig zu nehmen.“