Luise Wunderlich und Johannes Hustedt boten in der Stadtbücherei Texte von Christian Morgenstern dar
Heiterkeit, dem Siechtum abgerungen

Kirchheim. Im August leert sich die Stadt. Doch die Daheimgebliebenen müssen nicht darben, denn es gibt ein Sommerprogramm der Stadtbücherei, das großen Zuspruch findet. 


Literatur soll dabei mitten zwischen den Büchern lebendig werden – durch professionelle Vorträge und musikalische Begleitung. „Text und Töne“ lautet das Motto des diesjährigen Dreierpacks. Es bringe die Konzeption auf den Punkt und biete alle Freiheiten der inhaltlichen Ausfüllung, wie Bibliotheksleiterin Ingrid Gaus betonte.

Der Autor des Auftaktabends passte genau in diese Konzeption. Christian Morgenstern bot sich nicht nur an, weil dieses Jahr sein hundertster Todestag gefeiert wird, sondern weil sein Leben und Werk von Freiheitsstreben geprägt sind. Sein Vater wollte, dass er Jura und Volkswirtschaft studiert. Er schlug einen anderen, mühsameren Weg ein: als Mann der Literatur.

Morgenstern gehört zu den Autoren, die abseits des literarischen Mainstreams im Bewusstsein der literarischen Kreise trotzdem immer präsent sind, also volkstümlich im besten Sinn. Sieht man eine Möwe, so tauft man sie seit Morgenstern „Emma“, und zu einem „Bachgeriesel“ gehört unbedingt ein „Wiesel“, schon „um des Reimes Willen“. Christian Morgensterns scheinbar paradoxe Weisheit: „Der kommt oft am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht“ hat sich in seiner Nachwirkung bewahrheitet. Ohne es zu ahnen, wurde er zu einem Wegbereiter moderner Stilrichtungen, von „Dadaismus“ bis „Konkreter Poesie“.

Mit Vorfreude konnten die Besucher also dem Abend entgegensehen, zumal für die Präsentation zwei in Kirchheim wohlbekannte und geschätzte Künstler engagiert wurden: die Schauspielerin und Sprachlehrerin Luise Wunderlich und der Musikdozent Johannes Hustedt. Ihre Bethge-Matinee vergangenes Jahr im Kornhaussaal etwa ist noch vielen in lebhafter Erinnerung. Die beiden verstehen sich blind. Sie haben sich in Morgenstern hineingegraben und eine Textauswahl zusammengestellt.

Nach drei nachdenklichen Gedichten und einer Flöteneinlage gab Luise Wunderlich eine kurze Einführung ins Leben und Werk des Autors. Was die Zuhörer bei der Heiterkeit vieler Verse kaum vermutet hätten: Morgensterns Leben war durch ein zwanzigjähriges Siechtum überschattet, bis er im Alter von dreiundvierzig Jahren der Tuberkulose erlag. Von der breiten Palette Morgensterns – er war Übersetzer, vor allem von Ibsen und anderen nordischen Schriftstellern, Philosoph und Lyriker mit ernsten und heiteren Versen – sind im Wesentlichen nur die 1905 erschienenen Galgenlieder heute noch lebendig. Diese Tatsache bestimmte auch die vorgetragene Textauswahl.

Was sind Galgenlieder? Christian Morgenstern erklärte: „Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung . . . ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andere Dinge als Andre“. Die Welt wird gesehen aus der Sicht eines Kindes, das in jedem Menschen verborgen ist: „Das will auch in der Kunst mitspielen“. Der kindlichen Fantasie entstammen dann die Traumgestalten der Galgenlieder: Palmström, Korf, Palma Kunkel und der Gingganz.

Wunderlich und Hustedt ließen diese Gestalten in einem bunten Reigen ihr lustiges Spiel treiben. So erfindet Korf „eine Mittagszeitung, wenn man sie gelesen hat/ ist man satt“, oder eine Art von Witzen, die ihre Wirkung erst viel später erzielen: Man wird „nachts im Bett plötzlich munter, selig lächelnd wie ein satter Säugling“. Er imaginiert einen „Fliegenplaneten“, auf dem es den Menschen „nicht gut geht“: „Denn was er hier der Fliege, die Fliege dort ihm tut“. Die Menschen kleben an mit Honig bestrichenen Bändern. Doch sie werden immerhin weder in Semmel gebacken noch aus Versehen getrunken. „Auf dem Fliegenplaneten“ lautete übrigens auch das Motto der ganzen Lesung.

Doch hier wie auch in anderen Gedichten kommt neben der Heiterkeit ein melancholischer Unterton hinzu, der sich im letzten Teil des Programms zu tiefen Weltanschauungsgrübeleien steigerte. Luise Wunderlich zitierte immer wieder aus Briefen Morgensterns an seinen Freund F.  Kayssler, in denen das Ringen um den Sinn des Lebens spürbar wird. Angesichts seines körperlichen Leidens schon in seinen eigentlich besten Lebensjahren ist das nicht verwunderlich. Auf dem Umweg über Nietzsche hat er diesen Sinn in der Anthroposophie Rudolf Steiners gefunden. Die beiden waren befreundet und Morgensterns Urne hat einen Platz im „Heiligtum“ der Anthroposophen, in Basel im Goetheanum, gefunden.

Wunderlich und Hustedt versuchten, Morgenstern in möglichst vielen Facetten zu bieten. Bei ihrer bis ins Letzte ausgefeilten Darbietung wurde der ernste Hintergrund der Texte mehr betont als das Schalkhafte und Heitere. Vielleicht hatte sich die Künstlerin von einem zeitgenössischen Bericht inspirieren lassen, der davon spricht, dass Morgenstern seine Gedichte sehr ernsthaft vorgetragen habe. Luise Wunderlich rezitierte nicht nur, sie spielte auch mit Mimik und Gestik. Das barg bei aller Professionalität die Gefahr der Monotonie in sich und kostete Zeit, in der der Schalk und die Pointen auf sich warten ließen. Köstlich und gelungen war das „Zusammenspiel“ mit Hustedt bei „Fisches Nachtgesang“. Die beiden formten die stummen Fischmäuler mit den Lippen nach. Seine Lippen benutzte Hustedt, wie gewohnt, um zur Einstimmung und Begleitung der Texte Blasinstrumenten wunderbare und wundersame Töne zu entlocken, teils von Telemann, teils von ihm selbst komponiert.

Zwei weitere Veranstaltungen der Stadtbücherei unter der Überschrift „Texte und Töne“ gibt es am 15. August und am 5. September.