Kirchheim. Der Gerichtsmaler Titorelli stand im Mittelpunkt der Interpretationsaufgabe für das baden-württembergische Abitur 2011. Und manch ein Aufsatzschreiber mag sich gestern im Prüfungsraum vorgekommen sein wie Kafkas Romanheld K. im Zimmer der zwielichtigen Helferfigur. Über K.s Befinden in diesem Zimmer heißt es nämlich in der Textstelle, die zu interpretieren war: „... es war nicht eigentlich die Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl schon lange nicht gelüftet.“ Vielleicht ist es für K. auch vor allem der ungewisse Ausgang seines undurchsichtigen Prozesses, was ihm bei Titorelli die Luft zum Atmen nimmt. Ähnlich unsicher ist für viele Abiturienten der Ausgang ihres Aufsatzes, der immerhin der wichtigste ihrer gesamten Schullaufbahn gewesen sein dürfte.
Gegenüber K. hatten die Oberstufenschüler jedoch den Vorteil, dass sie sich beim Schreiben eben nicht auf dubiose Helferfiguren verlassen mussten, sondern nur ganz allein agieren durften. Die Helferfiguren als solche - die zwar häufig skurril sind, die aber durchaus auch sehr positiv sein können - waren im Interpretationsaufsatz das Bindeglied zwischen Kafka und Kleist: In der Aufgabenstellung ging es gestern nämlich auch darum, die Bedeutung von Helferfiguren für K. und für Michael Kohlhaas zu vergleichen.
Am Ludwig-Uhland-Gymnasium war diese Aufgabenstellung der Renner: Mit 66 Abiturienten hat sich dort die Hälfte aller Aufsatzschreiber für die Interpretation entschieden. An der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule (WG) war diese Tendenz noch deutlicher: 39 von 64 Prüfungsteilnehmern in Deutsch wollten Kafka interpretieren und mit Kleist vergleichen. An der Max-Eyth-Schule (TG) gab es gestern dagegen andere Schwerpunkte: Dort haben 26 von 48 Abiturienten einen Deutsch-Aufsatz geschrieben, und die Hälfte hat sich dafür entschieden, einen Essay zum Thema „Luxus“ zu verfassen, der an den beruflichen Gymnasien zur Auswahl stand. Immerhin elf Mal versuchten sich die Schüler des TG am Gedichtvergleich. Dabei war Else Lasker-Schülers „DIR“ aus dem Jahr 1902 mit Hans Magnus Enzensbergers „trennung“ von 1960 zu vergleichen. In beiden Fällen geht es um Liebe, die nach längerer Zeit keine Erfüllung mehr zu bieten hat.
Für das Schlossgymansium wiederum lagen gestern keine verlässlichen Zahlen vor, weil das Haus am Nachmittag wegen eines Chemieunfalls geräumt werden musste (siehe Artikel unten). Es gab aber zumindest Kurse, in denen sich Mehrheiten für die Gestaltende Interpretation abzeichneten. Diese Aufgabe war dem neuen Schwerpunktthema gewidmet: Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Die Annahme war, dass Alfred Ill nach einer gemeinsamen Ausfahrt, bei der die Familie bereits im Luxus schwelgte, einen Brief an seine Familie geschrieben hat. Die Angehörigen finden den Brief erst nach Ills Tod. Sie sind durch ihr Streben nach Luxus aber schuldig geworden am Tod des Vaters, wie übrigens der ganze Ort Güllen.
Dass sich in diesem Fall am Schlossgymnasium die Gestaltende Interpretation als echte Alternative angeboten hat, lag vielleicht mit daran, dass es hier nicht darum ging, den Stil eines Schriftstellers aus dem 18. oder 19. Jahrhundert zu imitieren. Vielmehr konnte der Brief in heutiger Prosa abgefasst werden.
Ein weiteres aktuelles Thema in der Abitursprüfung war gestern die „Flatrate-Mentalität“, mit der sich ein FAZ-Artikel im Sommer 2009 befasst hatte. Am Ludwig-Uhland-Gymnasium fand diese Aufgabe immerhin den zweitmeisten Zuspruch, mit 35 Aufsätzen.
Am heutigen Mittwoch schwitzen die Abiturienten über ihren Mathematik-Aufgaben. Auch am Schlossgymnasium geht das Abitur trotz des Chemieunfalls vom Vortag nahtlos weiter. Am Donnerstag folgt Englisch, am Freitag Französisch. Sämtliche anderen Fächer stehen nächste Woche auf dem Programm.