Die „Titanic“ vereint Geschichte und Mythos. Es geht dabei um die Überheblichkeit, ein „unsinkbares“ Schiff bauen zu können, das prompt auf seiner ersten großen Fahrt im Ozean versinkt. Es geht um große Reichtümer,
die zugleich mit dem damals größten Schiff der Welt versanken. Nicht nur das luxuriöse Schiff selbst hatte nach heutigen Maßstäben Baukosten von weit über 100 Millionen Euro aufzuweisen. Auch die Ladung sowie das Gepäck der Passagiere stellten unermessliche Vermögenswerte dar. Namen wie John Jacob Astor IV, Benjamin Guggenheim oder Isidor Straus stehen auch 100 Jahre nach dem Untergang des Dampfers für sagenhafte Reichtümer, die sie besaßen, die ihnen aber nicht das Überleben der Katastrophe ermöglichten.
Hinzu kommen die Klassenunterschiede, denn auch Auswanderer, die mit Mühe und Not das Geld für die Überfahrt in der 3. Klasse zusammenkratzen konnten, befanden sich an Bord. Die Überlebensquote war indessen nicht nur von der Kabinenklasse abhängig, sondern auch vom Alter und vom Geschlecht. So wurden prozentual sogar mehr Frauen und Kinder der 3. Klasse gerettet als Männer der 1. Klasse. Der Ehrenkodex männlichen Heldentums ließ es geboten erscheinen, sich ins Unglück zu fügen und mit stoischer Ruhe dem Tod in den kalten Fluten entgegenzusehen. Der überlebende Direktor der White Star Line, Joseph Bruce Ismay, war anschließend gesellschaftlich ruiniert – nicht nur, weil man ihm einen wesentlichen Anteil an der Schuld für den Untergang zuschrieb, sondern vor allem, weil man ihm in einer US-Medienkampagne vorwarf, zu feige zum Ertrinken gewesen zu sein.
Das alles sind Fakten, die durch viele Sachbücher und Romane – und natürlich auch durch eine Unzahl an Fernsehdokumentationen und Spielfilmen – allgemein bekannt sind. Nicht alles, was in der Öffentlichkeit mit der „Titanic“ verbunden wird, ist indessen historisch belegt. Und an dieser Stelle beginnt die Mythenbildung. Zum Mythos gehören auch Verschwörungstheorien, etwa die vom Versicherungsbetrug. Erstaunlich ist aber, wie schnell solche Theorien in Umlauf kommen. Denn bereits im April 1912 berichtete der Teckbote über entsprechende Vorwürfe.
In den Archivbänden des Teckboten lässt sich auch 100 Jahre nach der Katastrophe noch genauestens nachvollziehen, wie die Leser damals über das Unglück informiert wurden: Es begann am Dienstag, 16. April, also bereits einen Tag nach dem Untergang, mit einer Fülle von Meldungen, die sich vielfach widersprachen. Während aber heute ein vergleichbares Unglück die Titelseiten füllen würde, geht es in der erwähnten Teckboten-Ausgabe zunächst um das aktuelle Geschehen im Königreich Württemberg und im Deutschen Reich. An erster Stelle stand die
Beisetzung der Herzogin Wera in Stuttgart, der Adoptivtochter des einstigen Königspaars Karl und Olga. Ausführlich debattiert wurde auch der Wehretat des Reichs. Und Sachverständige beklagten die Auswirkungen der Kälte auf die Blüte der Frühkirschen und auf die Triebe in den heimischen Weinbergen.
Dann aber gibt es auf Seite 2 etwas überaus Seltenes: eine eigene Überschrift für ein besonderes Ereignis. „Ein schwerer Schiffsunfall“, heißt es da, wo sonst nur Angaben wie „Württemberg“, „Deutschland“, „Ausland“ oder „Stadt und Umgebung“ zu finden sind. Es folgt aber kein zusammenhängender Artikel, sondern eine Aneinanderreihung einzelner Meldungen. Die erste gibt das Geschehen knapp, aber korrekt wieder: „Wie der Dampfer ,Virginian‘ von der Allanline in einem drahtlosen Telegramm mitteilt, ist der Dampfer ,Titanic‘ der White Starline mit einem Eisberg zusammengestoßen und hat drahtlos um Hilfe gebeten. Der Zusammenstoß ist am Sonntag abend erfolgt. Eine halbe Stunde nach dem Zusammenstoß begann das Schiff zu sinken.“
Die folgenden Meldungen besagen das genaue Gegenteil. Es heißt, die „Titanic“ treibe noch, bewege sich sogar aus eigener Kraft in Richtung Halifax. Dann wiederum soll die „Titanic“ im Schlepptau anderer Schiffe sein, und alle Passagiere seien in Sicherheit. Ganz typisch ist das Dementi der zuständigen Gesellschaft, wie es auch heute noch zu erwarten wäre: „Nach Blättermeldungen aus Newyork erklärt die Direktion der White Starline, daß die ,Virginian‘ der ,Titanic‘ Hilfe leiste und daß für das Leben der Passagiere keine Gefahr bestände.“
Eine neue Wende in der Berichterstattung wird mit einem eigenen Satz eingeleitet: „Im Gegensatz zu vorstehender Meldung ist uns heute früh 8 Uhr nachstehende telegraphische Meldung eingegangen“. Und diese Meldung wiederum folgt in fettgedruckten Buchstaben, denn hier handelt es sich um die ersten Angaben zu der Zahl der Menschen an Bord: „Die White Starline gibt zu, daß von den 2200 Passagieren und der Mannschaft des gesunkenen Dampfers ,Titanic‘ wahrscheinlich nur 675 gerettet sind. Letztere sind wie der Dampfer ,Olympic‘ meldet, meist Frauen und Kinder.“ – Danach folgen aber immer noch Meldungen, wonach alle Passagiere und die gesamte Mannschaft gerettet worden seien.
Eine erstaunlich präzise Zeitangabe findet sich in der Teckboten-Ausgabe vom 16. April 1912 auch schon. „Von unserem Privatkorrespondenten“ heißt es aus den USA: „Der ,Titanic‘ ist um 2.20 Uhr nachts amerikanische Zeit untergegangen.“ Diese Uhrzeit wird bis heute als Zeitpunkt des endgültigen Versinkens angegeben. – Auffällig in der zeitgenössischen Berichterstattung ist allerdings eine grammatische Besonderheit. Während heute allgemein der Artikel „die“ verwendet wird, gab es vor 100 Jahren offensichtlich auch die Version „der Titanic“. Das liegt wohl daran, dass der Artikel für „Dampfer“ auch auf den Namen allein übertragen wird. Denn meistens schreibt der Teckbote im April 1912 „der Dampfer ,Titanic‘“ und noch viel lieber „der Riesendampfer ,Titanic‘“.
Grammatische Feinheiten dürften die Teckboten-Leser damals aber weniger beschäftigt haben als das Ausmaß der Katastrophe. Am 17. April 1912 zumindest scheint es bereits festzustehen, dass gut zwei Drittel der Personen an Bord ums Leben gekommen sein müssen. Die Zahl der Geretteten schwankt zwischen 800 und 868. Besonders hervorgehoben wird aber folgende Aussage: „Demnach sind 12 bis 1500 Personen umgekommen.“ Darauf folgt eine kurze Kommentierung: „Es steht leider fest, daß es sich um das größte Unglück, das die Geschichte der Schiffahrt kennt, handelt.“
Das zuvor erwähnte männliche Heldentum wird ebenfalls entsprechend gewürdigt: „Die Liste der Geretteten zeigt, daß an Bord der ,Titanic‘ die beste Mannszucht geherrscht haben muß. Die Mehrzahl der Geretteten sind Frauen, die Mehrzahl der geretteten Männer ist verheiratet.“ Wie auch heute noch bei einer ähnlichen Katastrophe – sei es ein Zug, Schiffs- oder Flugzeugunglück –, gab es einen Ansturm der Angehörigen, die auf Nachrichten oder zumindest auf Namenslisten warteten. Aus London heißt es: „Während der ganzen Nacht waren die Bureaus der White Starline von Verwandten und Freunden der Verunglückten belagert, denen die Beamten nur mitteilen konnten, daß die ,California‘ in der Hoffnung, noch Ueberlebende zu finden, am Ort des Unfalls zurückgeblieben sei. Die vermißten Passagiere sind wohl kaum noch am Leben.“ Und aus New York wird berichtet: „Vor dem hiesigen Bureau der White Star-Line spielten sich herzerschütternde Szenen von Armen und Reichen ab.“
Am 18. April gibt es erste Spekulationen über den Kapitän: „Kapitän Smith, der mit dieser Reise der ,Titanic‘ seine Laufbahn als Seemann beendigen sollte, um sich ins Privatleben zurückzuziehen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit der ,Titanic‘ untergegangen.“ Über die Zahl der Geretteten und der Todesopfer gibt es ebenfalls die wildesten Gerüchte. Während die 700 Überlebenden in der Ausgabe vom 18. April ziemlich nahe an die tatsächliche Zahl herankommen, die knapp darüber lag, ist zugleich auch von 1800 und sogar von „über 2000 Personen“ die Rede, die zu den „Umgekommenen“ zu zählen seien. Heute wird davon ausgegangen, dass etwas mehr als 1 500 Personen beim Untergang der „Titanic“ ums Leben kamen.
Eine Meldung, die heute ebenfalls nicht fehlen dürfte, ist die vom Beileidsschreiben des deutschen Staatsoberhaupts. Es kam in diesem Fall aus Achilleion, wo Seine Majestät seinerzeit im Urlaub zu weilen geruhten: „Der Kaiser [Wilhelm II.] sandte aus Anlaß des Unterganges der ,Titanic‘ ein Beileidstelegramm an König Georg [V.] und beauftragte den deutschen Botschafter, der englischen Regierung ebenfalls sein Beileid auszudrücken.“ Eine Woche später wird vom deutschen Kaiser berichtet, dass er sich aktiv in die Diskussionen um eine Verbesserung der Sicherheitsstandards in der internationalen Seefahrt einbringt, indem er „eingehende Beratungen über verschärfte Sicherheitsmaßnahmen für den Passagierverkehr“ fordert.
Aber bereits einige Tage vor der kaiserlichen Anordnung ist im Teckboten davon die Rede, dass künftig alle Schiffe mit genügend Rettungsbooten ausgerüstet werden sollen, „um alle an Bord befindlichen Personen aufnehmen zu können“. Der Mangel an Rettungsbooten wurde also schon kurz nach dem Unglück als eine der Hauptursachen für die vielen Toten angesehen. Am 23. April 1912 zitiert der Teckbote den Vizepräsidenten der White Star Line, der zu beschwichtigen scheint, aber dennoch zwei Punkte anspricht, die inzwischen als allgemein anerkannt gelten: „Die ,Titanic‘ habe keinen neuen Rekord aufstellen sollen [und sie] habe in der Ausrüstung das vom Gesetz geforderte Maß überschritten.“
Damit sind wichtige Mythen angesprochen. Dass es zu wenig Rettungsboote auf der „Titanic“ gab, liegt auf der Hand. Aber die gesetzlichen Anforderungen hatten tatsächlich nicht mehr verlangt. Und der vermeintliche Kampf ums „Blaue Band“ für die schnellste Atlantik-Überquerung kann wohl auch nicht das Ziel der Verantwortlichen gewesen sein, weil beim Bau der „Titanic“ der Komfort eine wichtigere Rolle spielte als die Höchstgeschwindigkeit.
Weitere Mythen betreffen den Brand in einem Kohleraum oder auch einen möglichen Versicherungsbetrug. All das meldete auch der Teckbote vor 100 Jahren schon, teils als Spekulation, teils als Dementi der Schifffahrtslinie. Wirkliche Beweise für solche Verschwörungstheorien gab es nie, und am Zusammenstoß mit einem Eisberg als Auslöser des Unglücks gibt es keinerlei berechtigte Zweifel. Hinzu kamen aber wesentlich Mängel, über die der Teckbote Anfang Mai 1912 berichtete: „daß die Ausguckleute nicht mit [Fern-]Gläsern versehen gewesen seien [...] daß die Stewards und Heizer nicht darauf eingeübt waren, die Boote herabzulassen“, und „daß der Dampfer mit voller Kraft fuhr, obgleich er genügend gewarnt war“.
Über die New Yorker Pressekampagne gegen Direktor Bruce Ismay wurden die Teckboten-Leser ebenfalls ausführlich informiert. Unter anderem wird die „hier herrschende Erbitterung gegen Ismay, dessen Verhalten als Feigheit bezeichnet wird“, erwähnt, und seine eigene Rettung wird „mit dem heldenhaften Verhalten des Kapitäns“ und zahlreicher illustrer männlicher Todesopfer „in Kontrast gestellt“. Es galt eben als männlicher und anständiger, leere Plätze in Rettungsbooten nicht zu besetzen und stattdessen auf dem sinkenden Dampfer auszuharren.
Einen Vorwurf allerdings müsste sich auch der Teckbote von 1912 gefallen lassen. Am 19. April schreibt er: „Die sensationellen Beschreibungen verschiedener Newyorker Zeitungen von Szenen, die sich bei dem Untergang des ,Titanic‘ ereignet haben sollen, sind erfunden.“ Das hindert die Verantwortlichen aber nicht, nur einen Tag später ebenfalls sensationslüstern zu berichten: „Die einzelnen Meldungen sind erschütternd. Die Tochter des Kongreßmitglieds Hughes kehrte mit der ,Titanic‘ von der Hochzeitsreise zurück; ihr Gatte ist ertrunken, die Frau wurde gerettet, ist jedoch tödlich erkrankt. Eine gerettete junge Engländerin ist geisteskrank geworden.“
Solche Geschichten haben sich allerdings tatsächlich zugetragen, und sie zeigen das menschliche Ausmaß der Katastrophe am individuellen Beispiel von – wie es zuvor hieß – „Armen und Reichen“.