Lenningen. Zwei Ereignisse sind mit dem Amtsantritt von Pfarrer Gottfried Friedrich Rösler in Oberlenningen Mitte April 1815 bemerkenswert. Zum einen schrieb der Theologe ein
Kapitel der örtlichen Schulgeschichte, zum anderen verdanken die Oberlenninger dem Besuch des Hofdichters Matthisson im Pfarrhaus eine Beschreibung von Oberlenningen im frühen 19. Jahrhundert. Es war die Zeit nach dem russischen Feldzug Napoleons, an dem auch zehn Oberlenninger teilgenommen hatten, aber nicht alle heimgekehrt waren.
Wie in dem protestantischen Württemberg damals üblich, war der ehemalige Tübinger Stiftler gut vernetzt und verwoben, verheiratet und verschwägert mit Württembergs großen Pfarrerfamilien und Bildungsbürgern. Ihr Profil zeigten diese Menschen damals im Scherenschnitt. Zudem waren sie zur Postkutschenzeit sehr wanderfreudig. Ihren Natur- und Reisebeschilderungen sind manche historische Informationen zu verdanken. Sie lebten in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik, in der Kunst, Literatur und Musik als universale Lebensphilosophie alles umfasste und ein neues Naturverständnis erwachte.
Zu den Aufgaben der Pfarrer gehörte damals auch die Schulaufsicht. Bereits zwei Monate nach Röslers Amtsantritt forderte er drei Hilfslehrer an, um einen fächerspezifischen Unterricht zu ermöglichen. „So steht’s wohl, wenn Schulen zunehmen“, sagte einst Martin Luther, dem das Lesen und Singen der Knaben und Mägdlein ein Anliegen war. Tatsächlich erreichte diese Ermunterung zur Volksbildung mit der Reformation auch das Lenninger Tal. Vor über 450 Jahren wird hier zum ersten Mal eine Volksschule erwähnt. Die allgemeine Schulpflicht wurde zwar hundert Jahre später verordnet, aber erst um 1700 ansatzweise eingeführt. Die Menschen waren generationslang trotz des Übergangs zur neuen Religion noch dem Alten verhaftet und durch Kriege und Notzeiten nicht fähig, Veränderungen in der Kindererziehung anzunehmen.
Als junger Pfarrverweser auf dem Hohentwiel war Gottfried Friedrich Rösler mehrfach im Jahr 1808 in die Schweiz zu Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) gereist, um dessen Lehrmethoden kennenzulernen. Dieser hatte die Ideen von Johann Amos Comenius (1592 – 1670) „Alles fließe aus eigenem Antrieb. Die Gewalt sei ferne von den Dingen“ und von Jean Jacques Rousseau (1717 – 1778) „Lasst euren Zögling im Glauben, er sei der Meister“ studiert. Pestalozzi galt lange als Begründer der modernen Pädagogik und als Propagandist einer allgemeinen Bildung für alle Menschen. Das Gedenkjahr 1996 anlässlich seines 250. Geburtstags hatte den „Mythos“ Pestalozzi in den Mittelpunkt einer kritischen Diskussion gestellt: Die Gesamtausgabe seiner Werke fordere eine erneute Auseinandersetzung, um Grundlegendes und Zeitgebundenes zu trennen und um Pestalozzis Beitrag zur Entwicklung pädagogischen Denkens neu zu gewichten.
Rösler war Ehrenmitglied der „Gesellschaft für Erziehungsfreunde in der Schweiz“. In Stuttgart gründete er eine Höhere Töchterschule und war zwei Jahre lang deren Leiter. Im Lenninger Tal war er neben seinem seelsorgerlichen Amt auch 16 Jahre lang Schul- Konferenzdirektor. In einem Visitationszeugnis von 1837 werden unter anderem seine „biblischen Predigten ohne Schwärmerei, gute Schulaufsicht, seine Catechization (Religionsunterricht), sein vorzüglich praktisches Geschick und seine schönen landwirtschaftlichen Kenntnisse“ gelobt. Sein Sohn aus erster Ehe, Friedrich August, ein Schüler der Kirchheimer Lateinschule, war Arzt und musste wegen revolutionärer Umtriebe nach einer Haft auf dem Asperg und Flucht in die USA nach New York emigrieren. Ein weiterer Sohn, Theodor, aus zweiter Ehe, ging 1848 ebenfalls nach New York. Man kann daraus schließen, dass es im Oberlenninger Pfarrhaus wohl Gespräche mit liberal demokratischen Gedanken gegeben hatte. Im Heimatbuch des Kreises Nürtingen wird erwähnt, dass es damals in Oberlenningen 53 Handwerker gab. Schule und Lehrzeit waren sicherlich der „goldene Boden“ für die zahlreichen fachspezifischen Arbeitskräfte in dieser vorindustriellen Zeit. 27 Jahre war der pädagogisch interessierte Pfarrer Rösler hier im Amt. Den langen Schul-Weg bis zum heutigen Lenninger Bildungszentrum haben Pädagogen, die Gemeindeverwaltung und Förderer stets zukunftsorientiert begleitet.
Im Frühjahr 1816 bekam die Oberlenninger Pfarrersfamilie Besuch von dem damals berühmten Stuttgarter Hofdichter Friedrich von Matthisson. Der war zudem Legationsrat, Hoftheaterintendant und Oberbibliothekar. Matthisson galt als der Landschaftsmaler unter den Dichtern, als Sänger der Elegien. Er war einer der Dichterlieblinge mit seinen lyrischen Frühlingsbildern und poetischen Mondscheingedichten. Der Stuttgarter Redakteur Ulrich Stolte hat vor einem Jahr Matthissons Schilderung über Oberlenningen in dessen Aufsatz „Tafeln am Wege 1816“ wieder entdeckt: „Unter manchen Wanderungen, die der Freund (Christian Neuffer, Dichter und Pfarrer in Zell, mit Hölderlin befreundet) mit mir in der Umgegend machte, war die nach dem Dorfe Ober-Lenningen in jeder Beziehung die genußreichste. Bey heitrem Himmel und warmer Sonne begannen wir unsern Lauf nach dem Lenninger Thale, in das man über den sogenannten Sattelbogen, einem Gebirgsausschnitte zwischen der Teck und dem Breitenstein hinabsteigt. Den Sattelbogen hatte der Lenz mit dem lazurblauen Teppich der Frühlingsenziane geschmückt. Freundlicher Gruß der lieblichen Alpentochter! Im Dorfe Ober-Lenningen, das von der silberhellen und raschen Lauter durchströmt wird, fanden wir in Pfarrer Roser (gemeint Rösler) und dessen Gattin die artigsten und gefälligsten Wirthe. Beyde lebten einige Monate in Yverdon, um tiefer in den Geist von Pestalozzis Erziehungswesen einzudringen. Auf einem Spaziergange unter Blüthenbäumen, längs dem rauschenden Wasser, schilderte mir der würdige Seelsorger sein häusliches Glück mit den lebhaftesten Farben. Gattin und Kinder sind ihm die Welt. Im Lobe der ersteren war er unerschöpflich. . . . Nur zu bald mussten wir das ländliche Sorgenfrey von Ober-Lenningen verlassen, weil Neuffer sich zu einer Leichenrede für den folgenden Tage anzuschicken hatte . . .“ (im siebten Band der Schriften des Dichters; Zürich 1826).
Die Wanderer entlang der Lauter konnten an diesem heitren Frühlingstag nicht erahnen, dass wenige Wochen später eine Zeit ohne Sommer, mit schweren Unwettern, niedrigen Temperaturen, Missernten in den südlichen Ländern Europas, auch in Württemberg, eine große Hungersnot folgen würde. Im Herbst des folgenden Jahres war „eine Verbrauchslenkung der Abgabe von Getreide zur Linderung der Hungersnot 1817“ auch in Oberlenningen notwendig geworden, ebenso die drastische Erhöhung der Steuern. Anzahl und Namen der in diesen Jahren Ausgewanderten ruhen im Lenninger Archiv.
Der weit gereiste Friedrich von Matthisson kannte unter anderem Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Heinrich Voss, Matthias Claudius; er war in Diensten von Fürsten, Landgrafen und Königen. Friedrich Schiller habe ihn geschätzt, Franz Schubert und Ludwig van Beethoven vertonten seine Gedichte. Beethoven hatte ihm „für das Seelige Vergnügen, was mir ihre poesie überhaupt immer machte . . .“ gedankt. Mattissons Gedichte sind Romantik pur, heute fast vergessen. Seine wieder entdeckte Reiseschilderung nach Oberlenningen zeichnet ein Gemälde der Gegend im Frühlingslicht, ohne Schattenseiten des Alltags. Es mag als heitre Momentaufnahme in Erinnerung bleiben.