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„Ich bin neugeboren“

Lebensgeschichte Malek Mansour aus Ötlingen hat ein Buch über seine Flucht von Syrien nach Deutschland geschrieben. Morgen liest er in Nürtingen daraus vor. Von Andreas Warausch

Es ist eine aufwühlende Geschichte, die Malek Mansour schon so oft hat erzählen müssen. Nun hat er ein Buch über seine Flucht geschrieben, die ihn aus dem vom Bügerkrieg gebeutelten Syrien nach Nürtingen führte. Am morgigen Sonntag um 16 Uhr liest er auf dem Nürtinger Stadtbalkon aus seiner Biographie „Auf dem Weg von Aleppo ins Schwabenland“.

Sechs Jahre ist es her, dass der 26-jährige Malek Mansour, der heute in Ötlingen lebt, nach Nürtingen kam. „Deutschland und Europa, das waren meine Retter“, sagt er. Und er setzt noch einmal einen drauf: „Ich bin neugeboren.“ Ein ganzes Leben mit Familie, Freunden und Zukunftsplänen hat er hinter sich gelassen. Und sich ein neues Leben erkämpft. Er wird bald heiraten und möchte Orthoptik, ein Fachgebiet der Schielheilkunde, studieren. „Das liegt uns in den Genen“, sagt er lachend - und ist in Gedanken in Aleppo bei seinem Vater, einem Augenarzt, und seiner Mutter, die Zahnärztin ist.

Viel ist passiert, seitdem er 2015 in die Unterkunft auf den Nürtinger Säer gekommen ist. Und viel ist vor dieser Ankunft geschehen. So viel, dass sich der Titel seiner Erinnerungen „Auf dem Weg von Aleppo ins Schwabenland“ beinahe zu glatt anhört. Denn diese Flucht war ein Abenteuer, um das ihn keiner beneidet. Angst, Gefahr und Ungewissheit waren seine Begleiter. Gerade, weil die Grenzen für die flüchtenden Menschen erst nach Mansours Ankunft in Deutschland geöffnet wurden.

Die Geschichte beginnt aber noch früher. In Syrien. In Aleppo. Dieser wunderbaren Stadt, die als eine der ältesten der Welt gilt. Dort studierte er vor 2015 Archäologie. Denn Malek Mansour wollte helfen können, seine Stadt nach dem Krieg wieder aufzubauen. Daraus wurde nichts. „Die Lage spitzte sich zu“, sagt er. Er demonstrierte an der Universität gegen das Assad-Regime - und wurde festgenommen. 60 Tage im Gefängnis. 60 Tage voller Schikane und Folter. Frei kam er nur, weil seine Eltern Lösegeld zahlten. Er war traumatisiert. „Nein, ich bleibe auf keinen Fall“, schildert er seinen Entschluss zur Flucht.

So trat er eine Reise an. Mit dem Bus und zu Fuß ging es in die Türkei. Ausgestattet mit dem wenigen Geld, das seine Eltern zusammenkratzen konnten. Von der Türkei ging es mit dem Schlauchboot weiter gen Griechenland. Wenn Malek Mansour von dieser Seefahrt berichtet, wird das, was sonst so distanziert in den Nachrichten zu sehen ist, zur schrecklichen Wirklichkeit: Die Schleuser sprachen von 30 Flüchtenden - 60 waren dann auf dem Boot, das hoffnungslos überladen war. Sie zwangen die Flüchtenden mit Waffengewalt auf das Boot, das bald mit Wasser volllief. Dennoch schafften sie es von der gefürchteten türkischen Küstenwache unbemerkt auf eine griechische Insel. Aber die war unbewohnt.

Heute lächelt Malek Mansour bei dieser Geschichte. Damals war ihm mit seinen Schicksalsgefährten anders zumute. Mit Bootstreibstoff zündeten sie Kleider an. Die griechische Küstenwache fand sie, brachte sie nach Chios, wo sie in eine Sammelunterkunft ohne sanitäre Einrichtungen gesperrt wurden. Ihm war klar: Er will weiter. Mit der Fähre nach Athen, weiter zu Fuß und per Zug nach Mazedonien. Von dort im völlig überfüllten Zug nach Serbien. Zwölf Stunden stand er - und war froh, es an Bord geschafft zu haben. Weiter sollte es gehen nach Ungarn. Doch das Geld für Schleuser war fast aufgebraucht. Mit einem Freund versuchte er es bei Nacht und Nebel mit einer Taschenlampe, deren Batterie bald leer war, auf eigene Faust - immer in Angst vor der ungarischen Polizei. Als sie dachten, sie seien schon in Österreich sorgte der Busfahrer für Ernüchterung: Sie waren immer noch in Serbien.

Mit 70 Leuten in einem Sprinter

Also galt es, noch einmal ein Geschäft mit Schleusern zu machen. Die letzten 1000 Euro setzte der junge Syrer dafür ein. Wie Vieh wurde er mit 70 anderen Menschen in einen Sprinter gepfercht. Alle litten unter Atemnot und Todesangst, klopften, schrien. Vergeblich. Nach zwölf Stunden kamen sie in Wien an. Über München, Karlsruhe und Sigmaringen landete Mansour in Nürtingen.

Fünf Monate lebte er auf dem Säer. Bis er Asyl bekam. Der damals 19-Jährige ließ keinen Tag ungenutzt. „Ich habe gleich die Sprache gelernt, Wort für Wort“, blickt er zurück. Kontakte mit Syrern reduzierte er. Jörg Hauber war einer seiner ehrenamtlichen Betreuer, denen er unendlich dankbar ist. Da ging es neben der Sprache auch um kulturellen Austausch. Seine Freundin, die er bald heiraten wird, lernte er am Säer kennen. Sie arbeitete an der Essensausgabe.

An der Volkshochschule in Nürtingen absolvierte Malek Mansour die ersten Sprachkurse. Er jobbte, wollte nicht auf das Jobcenter angewiesen sein. Drei Jahre lebte er in Großbettlingen. Dann hörte er vom Refugee Programm an der Universität Tübingen. Er bewarb sich - und wurde angenommen. Dort lernte er in neun Monaten in Vollzeit nicht nur die Sprache auf einem Niveau, das zum Hochschulstudium berechtigt. Er wurde auch von Mentoren auf das Studium der Medienwissenschaften vorbereitet. Doch um einen Status zu erlangen, der ihm ein dauerhaftes Bleiben in Deutschland ermöglicht, genügten das Studium und die Nebenjobs beim Bäckerhaus Veit im Nürtinger Kaufland nicht. So beendete er das Studium und arbeitete mehr. Mittlerweile lebt Malek Mansour mit seiner Freundin in Ötlingen, die Bewerbung für das Orthoptik-Studium in Bonn ist schon abgeschickt.

Lesung in Rom

In der Zeit nach dem Abbruch des Studiums fand Malek Mansour Zeit, um ein Buch zu schreiben. Das erscheint vorerst im Eigenverlag, doch er hofft, einen richtigen Verlag zu finden. Sein Tübinger Dozent Simon Strauß macht ihm Mut. Und er interviewte ihn zu seinem Flucht-Buch für die renommierte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Strauß ist es auch, der ihm eine Lesung in Rom im Rahmen des Jahrestreffens des Vereins „Arbeit an Europa“ noch in diesem Jahr ermöglicht.

Doch zuerst liest Malek Mansour am Sonntag in Nürtingen. An dem Ort, an dem seine Geschichte in Deutschland so richtig begann. Dann berichtet er auch von seinen Gefühlen zwischen Aleppo und dem Schwabenland. Von Angst, Hoffnung - und dem Angekommensein. Eine Rückkehr nach Syrien kommt für ihn nicht in Frage. Zwar träumt er davon, die Eltern - abseits von Skype - wiederzusehen. Aber die Perspektiven für einen, den die Machthaber in Syrien als Verräter sehen, sind nicht rosig.

Indes will Malek Mansour weiter versuchen, ein Leben in seiner neuen Heimat aufzubauen. Damit er sich auch eines Tages ganz zugehörig fühlen kann. Denn das fehlt ihm noch. So will er auch zur Verständigung beitragen. Deshalb arbeitet er auch an einem zweiten Buch. Es soll die Rolle von Frauen in der arabischen Welt beleuchten.