Kirchheim. „Hallo. Ich bin die Márcia.“ Wenn Márcia Haydée sich ihrem Publikum vorstellt, gebraucht sie keine großen Worte. Sie steht einfach da, diese kleine, drahtige Frau, die Beine durchgestreckt, die Hände immer in Bewegung, und erzählt,
dass sie zum Tanzen geboren worden ist. „Wenn ich als kleines Kind Musik gehört habe, habe ich angefangen, mich zu bewegen“, erinnert sich die Frau, die das Stuttgarter Ballett weltweit berühmt gemacht hat. Zu ihrer Mutter sagte sie schon früh, sie wolle nicht heiraten oder eine Familie gründen. Sie wolle tanzen. „Nur im Ballettsaal war ich glücklich“, sagt Márcia Haydée mit ihrer rauchigen Stimme, aus der ihre brasilianische Herkunft klingt.
Márcia Haydée wurde 1937 in Rio de Janeiro geboren. Mit drei Jahren stand sie zum ersten Mal in einem Ballettsaal. Für ihre Lehrer war schnell klar: Dieses Mädchen hat Talent. Haydée studierte an der Royal Ballett School in London. Nach einem mehrjährigen Engagement beim Grand Ballet du Maquis de Cuevas kam die Tänzerin mit 24 Jahren zu John Cranko ans Stuttgarter Ballett.
Márcia Haydée erinnert sich noch genau daran, wie sie zum ersten Mal John Cranko traf. Um einen Platz in seinem Ensemble zu ergattern, musste die junge Tänzerin an einem Training teilnehmen, das der Direktor selbst gab. „John war ein wunderbarer Direktor, ein wunderbarer Choreograf. Aber seine Trainings waren furchtbar“, erzählt Márcia Haydée und lacht. Das Training bestand nicht aus Übungen, die den Körper auf den Tanz vorbereiten, sondern aus komplizierten Choreografien. Während um sie herum die meisten Tänzer versagten, kam der späteren Primaballerina ihre schnelle Auffassungsgabe zugute. „Ich konnte mir Choreografien einfach gut merken. Wahrscheinlich habe ich nicht sehr gut getanzt. Aber Cranko hat gesehen, dass ich ihn verstanden habe.“ Cranko hatte „seine Ballerina“ gefunden, seine Muse, die ihn zu vielen Choreografien inspirieren würde. Mit „Romeo und Julia“ begann das sogenannte Stuttgarter Ballettwunder – mit Márcia Haydée und Richard Cragun in den Hauptrollen. Die brasilianische Tänzerin gelangte schnell zu Weltruhm und wurde zur – wie die New York Times es formulierte – „Maria Callas des Tanzes“.
Márcia Haydée, die auf persönliche Einladung der Ehrenvorsitzenden der Neidlinger Landfrauen, Rosemarie Rieker, in den Manfred-Henninger-Saal der Kreissparkasse Kirchheim gekommen war, sprach auch über kleinere und größere Rückschläge, die ihr im Laufe ihres Lebens widerfahren sind. Zu den kleineren, über die sie im Rückblick lachen kann, gehört jene Zeit, in der sie als junge Tänzerin über ein Jahr lang auf eine Rolle im Ensemble des Grand Ballet du Maquis de Cuevas warten musste und in dieser Zeit so stark zunahm, dass der Maquis sie beim Vortanzen nicht mehr wiedererkannte. So leicht ließ sich die junge Brasilianerin nicht abwimmeln. „Ich habe ihn aufgesucht und ihm gesagt, dass er schuld ist, dass ich so stark zugenommen habe“. Schließlich hatte er ihr keine Rolle gegeben, weshalb sie wenig Geld hatte und sich nur von billigem Essen wie Weißbrot und Nudeln ernähren konnte. Der Maquis ließ sich überzeugen und nahm sie in die Kompagnie auf. „Ich war zwar zu dick. Aber ich habe schnell gelernt“, erinnert sich Márcia Haydée. Weil sie sich Choreografien so gut merken konnte, sprang sie immer ein, wenn eine Tänzerin krankheitsbedingt ausfiel. „Bei den Ballettmeistern war ich deshalb der Liebling. Aber die Mädchen im Corps de Ballet haben mich gehasst.“
Zu den schweren Rückschlägen gehört der frühe Tod John Crankos, der 1973 mit nur 45 Jahren verstarb. „In diesem Moment wollte ich nicht mehr tanzen“, erinnert sich Márcia Haydée. Die Kompagnie versuchte, sie zu überreden, die Leitung zu übernehmen. Es dauerte anderthalb Jahre, bis sich die Tänzerin dazu bereit erklärte – allerdings nur, bis sich jemand passendes fände. Es kam anders: Erst 1996 trat sie als Ballettdirektorin ab.
1995 heiratete Márcia Haydée den Yoga- und Meditationslehrer Günter Schöberl. Damit begann für sie ein neuer Lebensabschnitt. „Bis dahin war Ballett das Wichtigste in meinem Leben. Ab da war es mein Mann“, sagt sie, und strahlt ihren Ehemann an, der in der ersten Reihe sitzt. Der Tanz ist jedoch immer noch ein Teil ihres Lebens. Sieben bis acht Monate im Jahr verbringt sie in Chile und leitet dort das „Ballet de Santiago“. Die restliche Zeit lebt sie mit ihrem Ehemann auf der Schwäbischen Alb, steht aber immer wieder auf der Bühne des Stuttgarter Balletts. Die Frau, die in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden ist, wirkt kein bisschen müde. „Man muss immer in Bewegung bleiben. Und man sollte niemals denken: Jetzt ist Schluss“, sagt sie. „Man muss sich jeden Morgen sagen: Das Beste kommt noch.“