Owen. Als sich Tanja Drechsler dazu entschloss, eine Ausbildung anzutreten, wurde sie auf dem Arbeitsmarkt nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Es hagelte Absage um Absage. Ihr Alter und der kleine Sohn waren die eine Hürde, der Wunsch, die Lehre in Teilzeit zu machen, die andere. „Das konnten sich viele Betriebe nicht vorstellen“, erinnert sie sich. Kommentare wie „wir können doch nicht sechs Jahre ausbilden“, zeugten von der Unkenntnis der Arbeitgeber. „Es bedarf Aufklärungsarbeit“, betont auch Claudia Nothwang, die ihrem Mann im Büro des Owener Elektrobetriebs zur Hand geht. Beim derzeitigen Fachkräftemangel müsse auch das Arbeitsamt Programme fahren, um Alleinerziehende in Arbeit zu bringen. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, lautet das Credo der Chefin, die selbst als „Filmstar“ in einem dreiminütigen Videoclip der Handwerkskammer Region Stuttgart für die Teilzeitausbildung wirbt.
„Je älter ich wurde, desto weniger wollte ich ungelernt arbeiten“, sagt Tanja Drechsler. Nach dem Abitur an einem Wirtschaftsgymnasium hatte sie unter anderem bei Hewlett Packard in Dublin gejobbt. Sie spricht fließend englisch, doch eine Berufsausbildung nahm sie in all den Jahren nicht in Angriff. „Ich bin stolz darauf, dass ich nie von Hartz IV gelebt habe“, sagt die 36-Jährige. „Ich bin kein Typ, der zu Hause rumhockt.“ Vorbild für ihren Sohn zu sein, ihm zu zeigen, dass man etwas aus seinem Leben machen kann, war ein Motor, der Tanja Drechsler mit Mitte 30 bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle antrieb. Die entscheidende Starthilfe gab ihr dabei die Esslinger Beschäftigungsinitiative (siehe dazu unten stehenden Bericht). „Ohne Frau Braach wärst du nicht so gut durchgekommen“, betont auch Claudia Nothwang. Sie erinnert sich noch gut an den Anruf der Sozialarbeiterin von EBI, die ihr am Telefon Tanja Drechsler als „ganz engagierte Frau“ schmackhaft gemacht hatte. Ein dreiwöchiges Praktikum verschaffte beiden Klarheit, dass Ausbildungsbetrieb und Bewerberin zueinanderpassten.
Bis der Ausbildungsvertrag unterzeichnet war, musste insbesondere Tanja Drechsler einen regelrechten Papierkrieg hinter sich bringen. „Mancher verzagt da“, ist sich Claudia Nothwang sicher. Doch im August 2013 war es endlich so weit: Tanja Drechsler konnte ihre Ausbildung beginnen. Unter anderem aufgrund des Abiturs und ihrer Vorkenntnisse im Bereich Wirtschaft wurde die Lehrzeit von drei auf zwei Jahre verkürzt. Der Notendurchschnitt von 1,2 in der Zwischenprüfung zeigt, dass die Vorschusslorbeeren gerechtfertigt waren. „Ihr Ehrgeiz ist größer als bei Jüngeren“, sagt Claudia Nothwang über Tanja Drechsler. Sie selbst sieht die Ausbildung für sich als „große, einmalige Chance“ in ihrem Alter. „Meine Mutter ist stolz wie Bolle auf mich und freut sich, dass ich mich so reinhänge.“
Ohne die Hilfe der Mutter und deren Lebensgefährten freilich wäre die Ausbildung nur viel schwieriger zu meistern. „In Beuren gibt es für Kleinkinder kein Ganztagesangebot“, sagt Tanja Drechsler. Deshalb betreut ihre Mutter bislang den Kleinen. Ihn die ganze Woche tagsüber der Oma zu überlassen, wäre allerdings nicht drin gewesen. Die Teilzeitausbildung war deshalb die einzige Möglichkeit für Tanja Drechsler. Von September an geht ihr knapp dreijähriger Sohn in den Kindergarten. „Dann ist meine Mutter auch etwas entlastet.“
Viel Zeit bleibt schon durch die Fahrt nach Owen auf der Strecke, denn die Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Beuren und dem Teckstädtchen ist nicht gerade optimal. Weil viele Linien über Erkenbrechtsweiler ins Lenninger Tal fahren, sitzt Tanja Drechsler für die eigentlich nur fünf Kilometer lange Distanz mitunter 45 Minuten im Bus. Dienstags und freitags fährt sie zur Berufsschule nach Nürtingen, an den übrigen drei Tagen ist Tanja Drechsler für jeweils sechs Stunden im Betrieb.
„Wir mussten anfangs überlegen, wo wir sie einsetzen können, damit sie für sich, aber auch für uns, eine durchgängige Arbeit hat“, so Claudia Nothwang. Auch die Übergabe müsse gut geplant werden, um keine Informationen zu verlieren. Die Kontrolle von Wareneingang und Lieferscheinen sowie das Einholen von Angeboten sind Tanja Drechslers Metier. „Sie ist unsere Lagerkoryphäe“, verrät die Chefin überdies schmunzelnd. Seitdem die Auszubildende die Hoheit über die Regale im Keller hat, liegen Schräubchen und Schalter griffbereit am richtigen Platz. Dass die jüngere, ausgelernte Kollegin der älteren Auszubildenden etwas sagen dürfe, sei schon ungewöhnlich, meint Claudia Nothwang, doch wird in dem Owener Betrieb ein guter Umgang gepflegt. Das „Du“ auch der Chefin gegenüber kommt Tanja Drechsler leicht über die Lippen.
Auch wenn sie bei ihrer Ausbildung erst Halbzeit hat – für sich zieht die 36-Jährige schon jetzt ein positives Fazit. „Durch das Feedback fühle ich mich mehr wertgeschätzt.“ Und davon profitiert auch ihr Sohn.