Tilmann Jens sprach im Weilheimer Rathausfoyer über Demenz und den grausamen Abschied von seinem Vater Walter Jens
„Ich will sterben und nicht gestorben werden“

Des ungemein großen Interesses wegen war die angekündigte Lesung von der anheimelnden Enge des Kapuzinerhauses in die neutrale Weitläufigkeit des Weilheimer Rathausfoyers verlegt worden. Dort wurde eine Begegnung ermöglicht, die ihresgleichen sucht.

Weilheim. Wer schon einmal das Glück hatte, dem charismatischen Rhetorik-Professor Walter Jens noch „in seinen guten Zeiten“ leibhaftig zu begegnen und vielleicht sogar einige seiner legendären Vorlesungen im Tübinger Audi-Max miterleben konnte, dürfte vor Beginn der Veranstaltung zunächst wohl vergebens nach augenfälligen äußerlichen Ähnlichkeiten von Vater und Sohn gesucht haben.

Das änderte sich freilich schlagartig, als Tilman Jens zu lesen begann. Der in Frankfurt am Main lebende Journalist hat nicht nur des Vaters virtuosen Umgang mit Sprache geerbt, sondern auch dessen Esprit und geschliffene Argumentationskunst. Wer nur auf den Sprachduktus achtete, konnte glauben, tatsächlich Walter Jens gegenüber zu sitzen. Stimme, Intonation, Sprachmelodie – und nicht zuletzt auch die Gestik – wecken in ihrer unglaublichen Duplizität ungetrübte Erinnerungen an den gefeierten Rhetorikprofessor, den es so schon lange nicht mehr gibt. Selbst der Husten, der den schwer asthmakranken Walter Jens zeitlebens begleitet hatte, und gegen den der aktuell erkältete Sohn mit Tee und Tropfen angekämpft hatte, um den auch ihm sehr wichtigen Abend nicht absagen zu müssen, schien identisch zu klingen.

„Leben mit Demenz – Blaue und graue Tage“ lautet das Motto, das der Verein Soziales Netz Weilheim für seine noch bis Ende April mit unterschiedlichsten Veranstaltungen aufwartende Kampagne ausgesucht hat, deren Ziel es ist, umfassend über diese noch immer stark tabuisierte Krankheit zu informieren. In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist es schlichtweg gar nicht mehr möglich, hilflos zu schweigen, zu verdrängen oder einfach wegzuschauen.

Nur das Wissen über die bislang nicht heilbare Demenz und der offene Umgang damit kann dazu beitragen, die Lebensqualität von Erkrankten und Angehörigen zu verbessern, irrationale Ängste zu vertreiben, und Mut zu machen für eine unbefangene Begegnung mit mehr oder minder stark von der sich immer schneller ausbreitenden Krankheit betroffenen Mitmenschen.

Dass die vor wenigen Jahren noch verschämt totgeschwiegenen demenziellen Erkrankungen längst „in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind“, betonte Hauptamtsleiter Marcel Launer mit Verweis auf die aktuelle Berichterstattung über die Erkrankung Rudi Assauers. Auch die Sport-Legende ist zum Opfer dieser grausamen Krankheit geworden, doch der von den Medien geliebte Macher will weiter entschlossen gegen das grausame Schicksal ankämpfen. Er versteckt sich nicht länger, sondern geht selbstbewusst mit seinem Buch „Wie ausgewechselt“ in die Offensive. Er macht damit nicht zuletzt auch anderen verzweifelt mit ihrem Schicksal hadernden Mut und das ist gut so.

„Demenz ist für viele Menschen zunächst einmal etwas sehr Privates, das nur die Betroffenen und Angehörigen angeht“, stellte Marcel Launer bei seiner Begrüßung einleitend fest und konnte damit auch gut die teilweise unsäglichen Debatten und Demütigungen erklären, denen sich Tilman Jens nach der Veröffentlichung seines mutigen, aber oft auch mutwillig missverstandenen Buches, ausgesetzt sah. „Tilman Jens hat in seinem Buch diese privaten Momente mit seinen Lesern geteilt und dadurch etwas öffentlich gemacht, das oft Berührungsängste auslöst“.

Was Demenz tatsächlich aus einem Menschen macht, hat wohl noch niemand so eindringlich, aufrichtig und schonungslos geschildert wie Tilman Jens in seinem „Abschied von meinem Vater“, und seine Mutter Inge in ihrem – ebenfalls als Taschenbuch vorliegenden – Band „Unvollständige Erinnerungen“. Gemeinsam mit Tilmans Bruder Christoph sind sich alle drei darin einig, dass sie das unsägliche Leid von Walter Jens nicht verstecken wollen und nicht verstecken werden.

Diese Bereitschaft, nichts zu verschweigen, nichts zu verbergen und vor allem auch nichts zu idealisieren und zu beschönigen, geht schmerzhaft weit, aber sie regt in ihrer gnadenlosen Konsequenz zugleich auch unweigerlich dazu an, sich unbequemen existenziellen Fragen zu stellen und sich etwa intensiv mit dem Sinn von Patientenverfügungen oder der ungemein komplexen Problematik aktiver Sterbehilfe auseinander zu setzen, bevor es zu spät ist.

Tilman Jens präsentiert zu Beginn seiner aufwühlenden Lesung sein subjektives und durchaus auch kritische Bild seines gesunden, streitbaren Vaters. Im August 2001 hatte der Sohn ihn konkret gefragt, was denn sei, wenn er eines Tages an Alzheimer erkranken würde. Walter Jens hatte für sich darauf mit Worten Hölderlins geantwortet, der bekanntlich fast 40 Jahre in seinem goldgelben Neckarturm dem Tod entgegen dämmerte.

Wenn auch für ihn eines Tages gelten sollte: „April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne . . .“, dann wolle er das ihm von Gott geschenkte Leben gerne zurückgeben. Die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit, einem endlosen Siechtum ausgeliefert zu sein, machte dem schwer unter Asthma leidenden Walter Jens Angst. Er formulierte daher unmissverständlich deutlich: „Ich will sterben – nicht gestorben werden“.

Eine rasch fortschreitende demenzielle Erkrankung hat ihn längst zum Schatten seiner selbst und zum schweren Pflegefall gemacht. Der Sprache beraubt, sitzt er im Rollstuhl oder irrt durch seine Bibliothek, mit der er nichts mehr anfangen kann. „Ihm, dem Gedächtniskünstler, kam sein kostbarstes Gut, das Arbeitskapital, die Macht der Erinnerung abhanden“. Allein die Vorstellung, eines Tages inkontinent zu werden, habe bei seinem Vater Verlangen nach dem Jenseits geweckt, machte Tilman Jens deutlich und zitierte eine weitere klare Aussage seines Vaters: „Dann lieber tot“.

Der schmerzhafte Abschied von dem bewunderten Geistesriesen, streitbaren Literaten und nie um eine geistreiche Replik verlegenen Intellektuellen, ist inzwischen bei lebendigem Leib und von der Krankheit zunehmend ruhig gestellten Intellekt längst vollzogen. Dass Walter Jens durch eine von ihm stets konsequent „verdrängte“ NSDAP-Mitgliedschaft ins Schussfeld der Kritik geriet, hat ihn zum gebrochenen Mann und einsam gemacht.

Tilman Jens, der sich dieses Schweigen und ungeschickte „Herumeiern“ nicht erklären und es wohl auch nicht verzeihen kann, ist überzeugt, dass durch diesen Wendepunkt eines zuvor redlichen untadeligen Selbstverständnisses die schreckliche Krankheit vielleicht nicht ausgelöst, aber von da an doch dramatisch beschleunigt wurde. Inge Jens hat in einem Interview über den verstörenden Abschied von ihrem Ehemann klare Worte gefunden, deren Pragmatik unter die Haut geht. „Ich bin ihm irgendwie vertraut, das spüre ich, so vertraut wie ein altes Möbelstück“, stellt sie desillusioniert fest und muss sich zugleich eingestehen: „Er ist nicht mehr der Mann, den ich liebte“.

Tilman Jens mutet sich und seiner Familie, seinen Lesern und den Zuhörern viel zu. Ein „wahrer Segen“ ist in dem ganzen unerträglichen Elend die gleich zu Beginn der Lesung als „gestandene Schwäbin aus Mähringen am Fuße der Alb“ vorgestellte Margit Hespeler, „die nur ein Mensch ohne Herz in den Rang einer bloßen Pflegerin degradieren würde“. Sie habe wohl noch nie eine Zeile von Walter Jens gelesen, aber „den Kerl, so wie er ist, ganz einfach gern“.

Der von seinem kranken Vater etappenweise sich vollziehende Abschied, der mit einem Störfall im Gedächtnis begann, sei bitter und unsäglich schmerzhaft. Jetzt begegne er nur noch einem Vater, „der einfach nur lacht, wenn er mich sieht, der sehr viel weint und sich Minuten später über ein Stück Kuchen, ein Glas Kirschsaft freuen kann“.

Der Asthmatiker, dem einst bescheinigt wurde, dass er wohl nicht älter als 30 Jahre werden würde, lebt jetzt in einer völlig anderen Welt. Ohne die Hilfe anderer zu nichts mehr fähig, füttert er Kaninchen und liebt das Landleben. Der elitäre Literat und Asket, der stets Wasser predigte und trank, ist zu einem bodenständigen „Genussmenschen“ geworden, für den es inzwischen nichts schöneres gibt als einen selbst geernteten Apfel oder einen von seiner Margit frisch gebackenen Kuchen.

Tilman Jens spürt, dass sein Vater offensichtlich immer wieder auch Freude empfindet an einem Leben, dass er so niemals hätte führen wollen. Der Verfechter aktiver Sterbehilfe freue sich heute immer wieder darüber, doch noch am Leben zu sein – wie immer das inzwischen auch aussehen mag.

„Was aber ist mit all denen, die nicht das Geld für eine private Betreuung haben, sondern abgegeben in einem Heim, fernab der vertrauten Umgebung, das Ende der Tage erwarten?“ Diese Frage wird in vielen Besuchern nachklingen, die nicht nur der Lesung sondern des Themas wegen zu dieser ungemein aufrüttelnden und zum Nachdenken anregenden Veranstaltung gekommen waren.