Das Mittelalter lebt: Schüler des Ludwig-Uhland-Gymnasiums bestimmen die Ausrichtung des Klosterneubaus bei Meßkirch
Im ersten Licht des Tages geschieht Geheimnisvolles

Kirchheim/Meßkirch. Von wegen Frühaufsteher: Schüler des Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasiums, allen voran Mathematiklehrer Martin Kieß, machten die Nacht


zum Tage, um bestens gerüstet zu sein für einen ganz besonderen Sonnenaufgang. Die Arbeit vieler Schülergenerationen sollte am folgenden Morgen mit einer Orientation endlich Früchte tragen – und das bei einem Prestigeobjekt in Oberschwaben.

Bei Meßkirch wird im Walddistrikt Hackenberg, zwischen Rohrdorf und Langenhart gelegen, beruhend auf dem berühmten Klosterplan von Sankt Gallen eine karolingische Klosterstadt entstehen. Die auf der Insel Reichenau gezeichneten Pläne stammen aus der Zeit um das Jahr 830 und sind die frühest erhaltenen Dokumente dieser Art. Doch dieser Idealplan einer frühmittelalterlichen Klosteranlage ruhte weit über ein Jahrtausend ungenutzt in den Archiven. Damit ist jetzt Schluss. Auf Initiative des Vereins Karolingische Klosterstadt und der Stadt Meßkirch wird der Plan nun doch noch realisiert.

Nicht nur das Ansinnen eines Klosterneubaus in einer eher säkularisierten Gesellschaft erstaunt, auch die Methoden sind für die heutige Zeit ungewöhnlich. Bei der Rodung des Areals wird kein Vogel durch den Lärm von Motorsägen und Bulldozern erschreckt, stattdessen wird die sprichwörtliche Axt im Walde zum Einsatz kommen, denn moderne Technik ist auf dieser Baustelle absolut tabu. Dort soll in den nächsten Jahrzehnten ausschließlich mit den Mitteln des 9. Jahrhunderts gearbeitet werden, Ställe für verschiedene Haustierarten und Häuser für die Handwerker peu à peu entstehen – das Betreten dieser Baustelle ist ausdrücklich erwünscht, denn die Eintrittsgelder sollen mithelfen, das Projekt zu finanzieren.

Das Mittelalter lebt auf dem später rund acht Hektar großen Gebiet – und damit schlug die Stunde für Martin Kieß und seine Schüler. Schon lange befasst sich der Lehrer mit den Besonderheiten dieser Epoche, und er kam über Astronomie und Symbolik schon manchem Geheimnis jener Zeit auf die Spur. Viele Schüler unterstützen den Pädagogen in Seminarkursen und AGs bei seiner Arbeit, um seine Theorien wissenschaftlich zu untermauern. Begonnen hat alles vor Jahren mit der in Vergessenheit geratenen Bedeutung von Tympana-Symbolen und der geheimnisvollen Achteckform vom Castel del Monte. In diesem Zusammenhang wurde Martin Kieß auf die unterschiedlichen Richtungen der Baulinien nicht nur mittelalterlicher Kirchen aufmerksam, die in europäischen Breitengraden in dem Winkelfeld zwischen Nord-Ost und Süd-Ost schwanken, wobei es auch Ausnahmen gibt. Bis in die Reformationszeit wurden die Baulinien offensichtlich in Richtung des Sonnenaufgangs an einem ganz bestimmten Heiligentag festgelegt. Seit damals ist es beim Bau einer neuen Kirche immer weniger eine Frage gewesen, welcher Sonnenaufgang die Richtung der Baulinie bestimmen soll, sondern wohl nur noch eine Frage des Baufensters, innerhalb dessen gebaut werden darf.

„Das war was Sensationelles“, erinnert sich der Mathelehrer noch gut an den Anruf von Bert Geurten, Vorsitzender des Vereins Karolingische Klosterstadt mit Sitz in Aachen. „Da war so eine Stimme in bestem rheinischen Dialekt dran und hat von einem Klosterneubau erzählt und gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, die Orientation für die Baulinie der Klosterkirche zu machen“, erzählt Martin Kieß. Seine Zweifel an der Ernsthaftigkeit waren jedoch schnell vom Tisch. Ob das Projekt aber tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, war zu dem Zeitpunkt im November 2010 jedoch noch nicht klar. Ein Zeitungsartikel über die Orientation der Nikolauskapelle der von Barbarossa gegründeten Bad Wimpfener Kaiserpfalz brachte den Rheinländer auf die Spur der Kirchheimer.

Die machten sich nach dem Anruf optimistisch ans Werk. „Zunächst mussten wir einen geeigneten Tag finden, an dem die Baulinie des Klosterkomplexes in Richtung des Sonnenaufgangs ausgerichtet werden sollte. Frühjahr und Herbst fallen wegen des häufigen Nebels weg, wir brauchen ja die Sonne“, erklärt Martin Kieß. Weiteres Kriterium: Es musste ein Heiligentag sein, den es im 9. Jahrhundert schon gab. Im alten Sankt Gallener Klosterplan sind zahlreiche Heilige mit Altären gekennzeichnet, etwa Gallus, Maria, Johannes der Täufer oder – in der Westapsis – Petrus. Die Wahl fiel schließlich auf Letzteren, den ersten Hirten der Kirche und somit auf den 1. August. „Das war ein atemberaubend gutes Himmelsszenario, das es nur alle 20 bis 30 Jahre gibt und für eine Orientation ideal geeignet ist“, kommt Martin Kieß regelrecht ins Schwärmen. Am Tag darauf war heuer Vollmond, Venus und Jupiter – zwei Wohltäter – waren astronomisch im Sternbild Stier und astrologisch im Sternzeichen Zwillinge. „Das ist eine starke Position für Venus“, so der Lehrer. An tiefster Himmelsstelle war Saturn, der mit Finanzen in Verbindung gebracht wird. „Die haben noch Geldsorgen und hoffen auf gutes Gelingen“, sagt Martin Kieß im Blick auf die Projektinitiatoren. Deshalb wollen er und seine Schüler bei der Grundsteinlegung auf eine günstige Position dieses Planeten achten. „Saturn und Mars waren am 1. August nicht zu sehen, nur die Wohltäter strahlten am Himmel“, zeigt er sich zuversichtlich. Als Initiationspunkt wählten er und seine jungen Mitstreiter den Sonnenaufgang. Die Sonne wird so eins mit dem Aszendenten und sagt eine „stabile Geburt“ voraus. Dazu steht Jupiter im Sextil – 60 Grad – mit Sonne und Aszendent, was ebenfalls eine positive Konstellation ist. „Jupiter, der mächtigste und stärkste unter den Planeten, hat das letzte Wort“, kommentiert Martin Kieß. Der sich demnächst entwickelnde Vollmond bedeutet, Sonne und Mond stehen sich in Opposition gegenüber. „Wichtige Entscheidungen für den Klosterbau sollten nur mit intuitivem Verständnis für die Sachverhalte getroffen werden“, lautet dazu die Empfehlung von Martin Kieß. Ein gutes Omen bedeutete es auch, dass kein Wölkchen das Firmament verdunkelte – die Sonne ging in ihrer vollen Pracht im Oberschwäbischen auf. Somit konnte die Richtung, aus der die ersten Sonnenstrahlen vom obersten Rand der Sonnenscheibe bei ihrem Aufgang zu beobachten waren, ziemlich genau bestimmt werden.

Weil sich ein Fernsehteam zur frühmorgendlichen Orientation angekündigt hatte, wollten die Schüler – Nico und Robin Reick, Lisa Burghard, Nikolai Tichonow, Christian Dieterich, Frederic Hoss, Christoph Elsner und Vera Aschmann – all das, was sich am Himmel abspielt, erläutern. „Wir wollten das passend für die Zeit karolingermäßig machen und nicht auf Schwäbisch. Wir waren so gespannt, was am nächsten Morgen passiert, dass wir nicht ins Bett gekommen sind“, erzählt Martin Kieß. Die Schüler feilten die ganze Nacht an lateinischen Texten und einer Art Drehbuch, wie sie in ihren Kutten in der Morgendämmerung agieren. Dies erwies sich jedoch als (fast) verlorene Liebesmüh, denn der Filmer hatte sich ebenfalls Gedanken gemacht und seine eigenen Vorstellungen.

Unabhängig von dieser Schauspieleinlage war viel Vorarbeit für diesen aufregenden Tag nötig gewesen. Mehrfach waren die LUGler ins Oberland gefahren, um das Gebiet zu vermessen, wobei sie auf die Daten des Vermessungsamts zurückgreifen konnten. Vor allem ein hohes Maisfeld erschwerte die Arbeiten, weshalb auch – neben dem Einsatz von Messpunkten und Reflektoren – einige Berechnungen nötig waren, denn wo irgendwann die Klosterkirche stehen wird, ist zurzeit noch Wald, ein Sonnenaufgang also nicht in Sicht. „Unter anderem auch deshalb hat man früher Klosteranlagen vorzugsweise auf Höhen gebaut“, ist Martin Kieß überzeugt. Nach anfänglichem leichtem Misstrauen, was die fremden Menschen mitten in Feld und Flur trieben, erlangten die Kirchheimer schnell das Vertrauen der Einheimischen, und mit offizieller Erlaubnis des Landwirts durften sie die Wiese am denkwürdigen Morgen benutzen. Der war an diesem Morgen ebenfalls früh aufgestanden und schaute dem Treiben auf seinem Grund interessiert zu. Großen Willen und Ehrgeiz legten die Schüler an den Tag, „den Tachymeter drehsymmetrisch ins Wasser zu bekommen“, um die Gefahr der Messfehler so gering wie möglich zu halten. Ganz abgeschlossen ist die Arbeit allerdings noch nicht. Mindestens einmal noch müssen die Schüler ins Oberschwäbische, um die drei Messmarken zu überprüfen und den Meridian mit mittelaltertypischen Mitteln zu bestimmen: einmal auf der Wiese, auf der der Sonnenaufgang beobachtet wurde und dann noch im Wald, wo gebaut werden soll. „Dafür hat die Zeit am 1. August nicht mehr gereicht“, erklärt der Lehrer. Für die im frühen Mittelalter häufig angewendete Methode zur Bestimmung des Meridians benötigt man einen ziemlich langen und stabilen Stab, der senkrecht in den Boden gerammt wird und nicht schwanken darf. Nun gibt es zwei Zeitpunkte, einen am Morgen, den anderen am Abend, ein sonniger Tag ist vorausgesetzt, an denen der Stab genau gleichlange Schatten wirft. Die winkelhalbierende Linie zwischen den beiden Schattenlinien stellt dann den Meridian, die Nord-Süd-Linie dar. Die Richtung des am 1. August beobachteten Sonnenaufgangs wurde durch zwei über 100 Meter entfernte Messpunkte markiert. Sie entspricht genau der Richtung der Baulinie der zu errichtenden Klosterstadt. Man kann nun den Winkel zwischen dem Meridian und der Sonnenaufgangslinie bestimmen und dann den Winkel im Wald an der dortigen Meridianlinie anlegen, um schließlich die Baulinie dort zur Verfügung zu haben, wo dann gebaut werden soll.

Am 1. August traf Martin Kieß auch erstmals Bert Geurten, der just an diesem Tag seinen Geburtstag feierte und nach dem Sonnenaufgang von talentierten Schülern ein wohlklingendes Ständchen bekam. „Er ist ein lebensfroher Rheinländer“, beschreibt Martin Kieß den Initiator. Die beiden werden sich wohl spätestens beim Setzen des Grundsteins wiedersehen. Den Termin will Martin Kieß so bestimmen, damit Saturn gemäßigt wird und die Finanzierung der Klosterstadt stets auf soliden Fundamenten steht.

Das Video über die Orientation der Klosterkirche für den Campus Galli ist im Internet unter der Adresse http://youtu.be/v7UP83brkyE zu finden.