Der rationale Teil seiner Persönlichkeit sucht Planbarkeit und Struktur. Aber in Christian Dieterichs Herzen schlägt auch eine starke künstlerische Ader. Wenn sie eines Tages die Oberhand gewinnt, würde der begeisterte Hobbysänger mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Karte Musical setzen, ein Musikstudium oder eine Schauspielausbildung beginnen. Derzeit hat er sich aber für etwas „Solides“ entschieden und studiert in Vaihingen Verkehrsingenieurswesen.
Das Gesangstalent des Kirchheimers mit dem markanten Bart ist indes unbestritten. Wie sonst hätte er einen Stammplatz im Bühnenchor beim derzeit in Stuttgart laufenden Musical „Der Glöckner von Notre-Dame“ ergattert? Zumal sich Dieterich erst lange nach Produktionsstart dort beworben hatte und im Juni zum Vorsingen eingeladen worden war. Da lief das Stück schon ein halbes Jahr. Aber drei Tutti-Proben mit allen Musikern und eine Männer-Probe später war Christian Dieterich dabei als Tenor eins, welcher die höheren Lagen singt. Mittlerweile gehört er zum Stammpersonal und hat schon mehr als 70 Mal beim Glöckner vom Notre-Dame auf der Bühne gestanden.
Dass der Autodidakt bei einer professionellen Produktion der Stage-Entertainment-Gruppe mitmachen darf, ist für ihn etwas ganz Besonderes. „Ein Traum ist wahr geworden“, sagt der 27-Jährige mit leuchtenden Augen. Das Besondere dieser Produktion liegt für ihn darin, dass der Chor nicht nur eine unsichtbare Begleitung ist oder sich aus den Ensemble-Mitgliedern bildet, sondern als fester Bestandteil während der gesamten Aufführung auf dem Podium präsent ist.
Auf der großen Bühne noch ein absoluter Neuling, hat Dieterich in Kirchheim und Umgebung dagegen schon zahlreiche musikalische Akzente gesetzt. Als 16-jähriger Schüler des Ludwig-Uhland-Gymnasiums wirkte er im Musical „Jesus Christ Superstar“ unter Choreografie von Walter Pech mit, und in der Kirchheimer Stadthalle gab er den Herodes. Beim Musical „Anatevka“ hatte er 2008 eine tragende Rolle, ebenso bei „Hair“ 2014. Auch in anderen Genres zeigte Christian Dieterich sein Können. Beim 10. Kirchheimer Musikpreis gewann er im Duett mit Anna-Maria Wilke den zweiten Gesamt- und den ersten Förderpreis. Die beiden sangen das Abendlied „Nun wird es still auf Erden“ von Josef Gabriel Reinberger sowie Henry Purcells „Tripit, tripit in a ring“ und wurden dafür hoch gelobt. Er sei auch schon gefragt worden, ob er professioneller Sänger sei, erzählt er. Musik allgemein bestimmt bis heute seine Freizeit: Derzeit spielt er im Posaunenchor der Thomaskirche, singt bei der Liederlust Ohmden und beim Akademischen Chor der Universität Stuttgart.
Bei so viel positivem Feedback und seiner ohnehin schon vorhandenen Begeisterung für die Musik lag es für den Kirchheimer nahe, sich Gedanken über den Beruf des Musikers zu machen. Was er bei seinem derzeitigen Ausflug in die Musicalwelt sieht, flößt ihm aber Respekt ein: Die Hauptdarsteller des „Glöckners“ stehen acht Mal die Woche auf der Bühne. „Ich habe im September fünf Mal in der Woche gesungen, und das war schon richtig anstrengend“, sagt er. „Meine größte Sorge wäre es, auf Dauer den Spaß an der Freude zu verlieren“, fügt er nachdenklich hinzu. Außerdem fehlten ihm Kenntnisse in Schauspiel und Tanz.
Komfortable Position
In seiner jetzigen Position als hauptberuflicher Student kann er die Dinge auswählen, die ihm Spaß machen, muss keine Kompromisse eingehen. Dennoch wäre ein Rollenangebot für ihn eine Versuchung. „Ich weiß nicht, ob ich zusagen würde“, räumt er ein. Aber Die Professionalität, die Technik und die Atmosphäre im 1 800 Zuschauer fassenden Apollo-Theater in Stuttgart haben ihn begeistert. Was für ihn und die Sängerinnen und Sänger jedes Mal wieder ein ganz besonderes Gefühl ist: Nach der ersten Pause singt der Chor alleine. Der anschließende Applaus gilt somit nur dem Chor.
Mit reichlich Wehmut denkt Christian Dieterich jetzt schon an den 10. Februar. Dann wird zum letzten Mal der Vorhang des „Glöckners von Notre-Dame“ in Stuttgart fallen - auch für den Chorsänger. „Ich genieße es bis dahin noch in vollen Zügen, weil es wahrscheinlich so nicht wiederkommt“, sagt er. Falls er sich beruflich nicht doch umentscheidet, wer weiß . . .!?