Hochdorf. „Ich hatte keine besondere Fantasie davon, wie deutsche Wohnungen aussehen“, sagt Serwan Youness: „Ich bin ja kein kleiner Junge mehr.“ Sein Bruder wohnt in Berlin, seine Schwester in Bremen.
Die Überraschung war nicht groß, als er Claudias Haus das erste Mal betrat. Größer aber das Erstaunen über die komischen Dächer im Lande. „Bei uns sind die flach“, sagt er verwundert. Claudia Ambaum erklärt: „In Deutschland regnet es so viel. Wir brauchen spitze Dächer, die flachen gehen hier irgendwann kaputt.“
Serwan Youness sitzt auf einem Stuhl in seinem Zimmer. Der Tisch in der Hochdorfer Flüchtlingsunterkunft ist gedeckt: Mahshi ist auf mehrere Teller verteilt – mit Reis und Fleisch gefülltes Gemüse: Paprika, Auberginen, Zucchini, Kartoffeln und Tomaten, dazu Weinblätter und Salat. Dafür stand seine Frau Marwa Youness zwei Stunden in der Gemeinschaftsküche. „Ich hab den Salat geschnibbelt“, sagt ihr Mann Serwan und lacht. Kochen sei nicht so seins.
Das Ehepaar ist vor Wochen aus der Kirchheimer Kreissporthalle in die neuen Holzhäuser am Rande Hochdorfs gezogen, abseits vom Chaos und dem Rest. Ihr Zimmer dort haben sie sich gemütlich eingerichtet: Serwan hat Zickzack-Regale aus angemaltem Styropor gebastelt, ein paar Bilder hängen an den hölzernen Wänden, umrahmt sind sie von kleinen neongelben Zetteln mit deutsch-arabischen Vokabeln. Die unzähligen Teller sind auf dem Tisch fast so eng aneinandergereiht wie der Tisch zwischen Bett und Tür gequetscht ist.
Als Marwa eine halbe Stunde vorher mit den Worten „Ich hab Hunger“ in die Küche verschwindet, um später mit haufenweise bunten Platten zurückzukommen, erzählt Serwan von dem weiten Weg nach Deutschland. Eigentlich wollten sie nie nach Deutschland. Aus Syrien sind sie wegen des Kriegs geflohen, in die Türkei. Dort blieben sie drei Jahre, in der Hoffnung, dass ihr Heimatland sich wieder erholt. Als es schlimmer wurde, nahmen sie ein Boot in Richtung Deutschland. „Wir sind nicht aus finanziellen Gründen gekommen. Uns ging es gut in Syrien“, erklärt Serwan Youness. Im Gegenteil: Der IT-Spezialist und seine Frau haben für die Flucht ihr ganzes Gespartes geopfert. Sie hatte in Hasaka nahe der Grenze zum Irak gerade einen Abschluss an einem Institut für Banking gemacht.
Jetzt sind sie seit drei Monaten in Hochdorf. Der Kontakt nach draußen ist schwierig, auch das Einkaufen ohne Auto ein Problem. Zum Glück ist Claudia da. Claudia Ambaum sitzt mit am Tisch beim Abendessen, wie jeden zweiten Mittwoch. Sie hilft Marwa beim Tischdecken und probiert hin und wieder ein paar Brocken deutsch aus den Mündern der Syrer zu locken. Letzte Woche waren Marwa und Serwan Youness zu Hause bei den Ambaums in Kirchheim eingeladen. Es gab Spinatquiche. Nächste Woche fahren sie schon wieder nach Kirchheim. Dann will Claudia einen riesigen Schritt in Richtung Integration wagen: Familie Youness‘ erstes, richtiges, schwäbisches Vesper. „Da kommen sie nicht drumrum“, witzelt Claudia.
Die Türen in Hochdorf und Kirchheim sind geöffnet und Serwan und Marwa konnten einen eigenen Blick darauf werfen, was unter den spitzen Dächern im Lande vorgeht. Beim Abendessen überwinden sie erste Hemmschwellen. Doch das Projekt Ambaum-Youness steht noch ganz am Anfang. Die Kirchheimerin hat große Pläne mit dem syrischen Ehepaar: „Im Sommer können wir mal auf die Alb oder in die Wilhelma in Stuttgart“, schlägt sie vor. Einstimmiges Nicken in der Runde: Serwan und Marwa sind froh, mal rauszukommen.
Für die beiden sind die Treffen eine Spielwiese, um ihr Deutsch auszutesten. Viermal die Woche gehen sie in Hochdorf in die Schule. Claudia Ambaum hat ihnen heute Bilderbücher mitgebracht mit deutsch-arabischen Beschriftungen. Die helfen, die kleinen Details auszudrücken. Normalerweise plaudert Claudia nämlich einfach drauf los – auf Deutsch: „Wie Marwa mich anschaut, weiß ich, dass sie etwas davon versteht.“ Marwa lächelt.
Das Paar ist zufrieden: In der Türkei waren sie Fremde, sagt Serwan, hier fühlen sie sich willkommen.