Bis ins 19. Jahrhundert war die Bebauung Kirchheims durch die Stadtbefestigung eng begrenzt. Nach 1820 begann man, die Stadttore, die Stadtmauer und die Erdbefestigungen zu beseitigen. In einer ersten Industrialisierungsphase war es Johannes Kolb, der seine mechanische Weberei von einem Haus am Marktplatz auf ein ausgedehntes Grundstück westlich der alten Stadtgrenzen verlagerte. Schon 1775 hatte er ausgedehnten Grundbesitz „hinter dem Seelhaus“ in der Ötlinger Vorstadt erworben und dort ein Wohnhaus und eine Werkstatt errichtet. Südlich von Kirchheim errichtete Carl Faber auf der Dettinger Au eine mechanische Buntweberei.
Eisenbahn brachte Zeitenwende
Den Startschuss zur Industrialisierung Kirchheims bildete 1864 der Anschluss an das Eisenbahnnetz. Die erste Privateisenbahn im Königreich Württemberg wurde durch Aktien finanziert und konnte nach Erwerb der nötigen Grundstücke in nur sieben Monaten fertiggestellt werden. Die 6,26 Kilometer lange Strecke verband Kirchheim mit Unterboihingen und der Neckarbahn und stellte damit den Anschluss an das bestehende Eisenbahnnetz dar. Ausgangspunkt war der neu erbaute Kopfbahnhof am westlichen Stadtrand von Kirchheim.
In der Folge entwickelte sich die Fläche außerhalb der Altstadt zum industriellen Herzen der Stadt: Neue Straßen wurden angelegt, eine Telegrafenanstalt und ein Gaswerk gebaut. Die ersten Industriebetriebe, die in der Enge der Altstadt keine Entwicklungsmöglichkeiten sahen, verlegten ihren Betrieb nach außen: der Klavierbauer Franz Anton Kaim, der Herdbauer Richard Wiest, der Strümpfehersteller Emil Battenschlag und der Papierwarenfabrikant Albert Ficker. Sie alle stellten ihre Produkte in zunächst einfachen Gebäuden auf der grünen Wiese her, bevor sie sich repräsentative Fabrikbauten leisten konnten.
Zu den aufstrebenden Fabrikanten, die von der neuen Fläche profitierten, gehörte Johann Christian Gaier. Der Nachfahre eines Bäckers aus Schlaitdorf ließ sich 1869 in Kirchheim als selbständiger Mechanikermeister nieder. Zunächst betrieb er einen Laden, in dem er eiserne Gartenmöbel und Nähmaschinen verkaufte.
Bald konnte er sich ein eigenes Haus in der Marktstraße 51 kaufen. Dort eröffnete er einen kleinen Produktionsbetrieb. Mit einem einzigen Arbeiter und unterstützt durch einen Gasmotor als Energiequelle stellte er Haushaltsgeräte aller Art her. Nach wenigen Jahren beschäftigte er bereits zehn Arbeiter und er trug sich mit dem Gedanken, seinen Betrieb in eine Fläche außerhalb der Altstadt zu verlegen.
1883 kaufte er in der Ötlinger Vorstadt in der Bahnhofstraße 26 „auf Steingau hinter dem Herrschaftsgarten“ ein ausgedehntes Grundstück. Dort ließ er durch Werkmeister Niefer ein einfaches Fabrikationsgebäude errichten. Er war ein innovativer Mechaniker und Tüftler, er erkannte früh den Konsumwunsch breiter Schichten durch den Konjunkturaufschwung: Er produzierte Haushaltsmaschinen aller Art, Spätzlesmaschinen, Saftpressen, Beerenmühlen, Bohnenhobel, Wäschemangeln, Kartoffelpressen, Nudelschneider und Suppenbrotmaschinen. 1903 übernahm er von seinem Schwager, dem Optiker Carl Mayer, die Herstellung von Spiralbohrern, alle Produkte unter dem eingetragenen Warenzeichen „Teck“.
1969 gab die Firma Gaier auf
Die Firma Gaier war bis nach dem zweiten Weltkrieg erfolgreich. Dann waren die schweren Küchenmaschinen immer weniger gefragt. Man produzierte zudem Zubehörteile für Papier-und Textilmaschinen. Beide Branchen gerieten in die Defensive. Die Suche nach weiteren Produkten wie etwa Kistenschonern war nicht sehr erfolgreich. Immerhin beschäftigte die Firma 1965 noch 73 Mitarbeiter.
1969 gab die Firma Gaier den Betrieb auf, die Fabrikbauten wurden abgebrochen. Für die Kirchheimer Industriegeschichte bedeutete es einen tiefen Einschnitt, als im April 1969 der 35 Meter hohe Fabrikkamin gesprengt wurde. Übrig blieb das 3,5 Hektar große Grundstück zwischen Kolb- und Henriettenstraße auf dem ein eingeschossiger Supermarkt mit Parkplatz angelegt wurde. Dieser bestand, bis er vom Nanzcenter auf dem benachbarten Gelände der ehemaligen Firma Kolb und Schüle abgelöst wurde. Die Stadt Kirchheim erwarb das Gelände und beschloss, im „Steingau-Quartier“ 200 bis 250 innovative Wohnungen zu bauen. Es sollten neue Wohnformen erprobt werden.
Inzwischen ist die Bebauung weit fortgeschritten und das Ergebnis ist ein attraktives Wohnquartier: einst am Stadtrand im „Niemandsland“ gelegen, jetzt absolut stadtnah zwischen Zentrum und Bahnhofs.
Die Villa war das Aushängeschild
Zu einem erfolgreichen Unternehmer gehörte als Aushängeschild eine repräsentative Villa. Gaier konnte es sich leisten, den aufstrebenden Stararchitekten Philipp Jakob Manz mit dem Hausbau zu beauftragen. Manz baute für Gaier eine aufwändige Villa im Schweizerhausstil, natürlich auf dem Fabrikgelände.
Manz war auch der Architekt der ebenso repräsentativen Nachbarvilla. Bauherr war der Bezirksnotar Ernst Müller. Dieser geriet durch windige Geschäfte auf die schiefe Bahn und wurde „vergantet“, das heißt, er geriet in Konkurs. Er musste die Villa verkaufen und fand in Christian Gaier einen zahlungskräftigen Käufer. Die schräg durch das Gebiet verlaufende Olgastraße wurde aufgelassen. Die Villa existiert mit kleinen Veränderungen bis heute, während die ursprüngliche Gaiervilla 1976 einem Parkplatz weiche musste.
Gaier leistete sich auch für die meisten seiner seine Fabrikbauten Manz als Architekten. Die Manzschen Fabrikbauten waren mehr als Zweckbauten, sie waren schön und nachhaltig gebaut, auf Außenwirkung angelegt. es