Lenningen. „Armer Konrad“ – armer Kerl, armer Teufel! So nannten die Adligen und wohlhabenden Bürger die Bauern, Handwerker und fahrenden Händler. Das waren die gemeinen Leute, der vierte Stand unter
der Geistlichkeit, dem Adel und den reichen Städtern. „Wie soll mir armen Bauern geschehen? Ich muss ackern, schneiden, mähen, . . . Mich peinigt Rent, Gült, Steuer und Fron, muss schier ernähren jedermann“, beschrieb der Nürnberger Schuhmacher und Dichter Hans Sachs die Lage der Bauern vor 500 Jahren.
Auch hierzulande litt das einfache Volk unter den hoheitlichen Lasten und wurde zunehmend unzufriedener. Die verschwenderische Hofhaltung des jungen württembergischen Herzogs Ulrich verschlang so hohe Summen, die größer als die Staatseinnahmen waren. Das führte zu einer beträchtlichen Verschuldung. Fälschungen von Maßen und Gewichten sollten mehr Einnahmen bringen; die alten Jagd- und Fischrechte galten nicht mehr. Unruhen und Aufbegehren sandten ihre Vorboten: Es breiteten sich die Bauernbünde „Bundschuh“ über das Elsass und Breisgau bis nach Württemberg aus. Im Remstal hatte der „Arme Konrad“ seinen Anfang in einer geheimen Verbrüderung der Bauern. Das Wortspiel eines Bauernburschen mit Namen Konrad und seinem Spruch „Koan – Roth bei ihm verfangen wolle“ habe dieser Bauernbewegung den Namen gegeben. Dieses Aufbegehren in Zeiten großer Umbrüche war das Beben vor den großen Bauernkriegen. Auch im Lenninger Tal probten die Ausgebeuteten den Aufstand.
Der Michel Schwannfelder ist einer von den wohl vierhundert „insaezen“ hier. Das Pfarrdorf hat sich um die wehrhafte Steinkirche auf dem Hügel wie ein Nest angesiedelt. Seit einem Jahrzehnt überragt ein stolzer Kirchturm das große alte Gotteshaus. Ob der Schwannfelder mit dabei war, die Tuffsteinquader für den fünfstöckigen Turmbau aufs Gerüst zu schleppen? Ein Monasterium – ein Münster – nennen sie diesen Bau. So steht es auf der steinernen Inschrift über dem Eingangsportal. Diese lateinischen Worte kann der Bauer Michel nicht lesen – auch versteht er in der Messe nicht, was die geistlichen Herren in dem neuen prächtigen Chorraum singen. Das Lied „Merket auf, ihr Christenleut, was ich sing zu dieser Zeit“ begreift er schon besser.
Seit über hundert Jahren sind nun die Grafen von Württemberg die Patronatsherren. Sechs Geistliche, ein Priester mit seinem Helfer und vier Kaplane haben hier ihre Pfründe. Die Kapelle Nikomedes liegt jenseits der Viehtränke bei der Oberen Mühle „ob dem Steg“. Die gehört schon lange zu den Besitztümern der Kirchheimer Klosterfrauen, dazu die Nonnenwiesen, Wiedenäcker, Spitalwiesen und Holgenwiesen – das sind die heiligen Wiesen. Deren Erträge gehören dem Kloster Bebenhausen und dem Kirchheimer Spital.
Droben auf den „Wielenstainen“ sitzen die württembergischen Burgvögte, seitdem die teckschen Dienstmannen, die Herren Schilling von Cannstatt, auf dem Hügel über der Lauter in ihrem Turmschloss wohnen. Im Tal leben sie lustiger bei ihren Gärten, Wiesen und ihrem Brunnen. Ihre Hofgüter auf der „alpen“ hinter dem Schloss und den Burgställen haben die Edelleute an die Oberlenninger Bauern verliehen. Aber auch sie bewirtschaften im Hirschtal, Tobeltal und an der Lauter beim „Söwlin“, den Seewiesen, die Wiesen, Äcker und Baumgüter leichter und ertragreicher als dort oben. Denn die grundherrlichen Abgaben schmälern die Ernten, dazu für die Kirche der Große Zehnte von der Halmfrucht, der Kleine Zehnte von den Feldfrüchten und der Heu- und Obstzehnte. Sein Korn lässt Michel in der „Unter Mühl bei der bruk“ mahlen. Ganz in der Nähe ist die Zehntscheuer „in den Höfen“, dorthin bringt der brave Michel Jahr für Jahr den geforderten Ernteanteil. Nur leise murren er und die „bawerlen“, die kleinen Bauern, wenn sie für den Landesherrn fronen oder diese Herrschaften bei ihrer Jagd durch die Felder reiten. Schon heftiger mucken sie auf, wenn sie zum Kriegsdienst gerufen sind. Der obrigkeitstreue Stabsamtmann, der Schultheiß und die Dorfrichter sorgen schon, dass es in der Schenke nicht zu laut wird.
Da sitzen öfters auch die fahrenden Handelsleute, die auf der alten Durchgangsstraße von Kirchheim her reisen zu den Märkten in Ulm und Oberschwaben. Die Herbergen und Weiden sind für sie und ihr Vieh wichtige Rastplätze vor dem Albaufstieg. Sie haben nicht nur Wein, Flachs, Leinwand, Salz und Töpferware in den Körben und Säcken. Sie bringen die neueste Kunde ins Dorf. Sie berichten von nächtlichen Himmelserscheinungen über dem Schloss Hohenurach, erzählen von den Bauern im Remstal, dem nahen Dettingen und Owen, von aufmüpfigen Nürtingern. Aus dem Ermstal kam auch Bantelhans ins Lenninger Tal geritten, „ehemals ein Kriegsmann, erscheint bei seinem Auftritt im Armen Konrad als ein wohlhabender Bürger, er ist klug, beredt und angesehen . . .“: Neue Steuern auf Mehl, Fleisch und Wein will der junge Herzog; die alte Waldweide und Holzrechte der Bauern sollen nicht mehr gelten. Da soll erst recht der Schmalhans über das Landvolk herrschen. Man muss sich wehren. Jetzt hat der lang verdruckte Bauernzorn einen Namen, heißt der „Arme Konrad“. Und vielleicht hört der Michel daheim sein Weib wieder singen: „Wigen wagen gigen gagen wenne will es tagen“.
Nicht nur der Michel Schwannfelder und seine Genossen stöhnten unter den neuen Lasten, die der zügellose junge Herzog einforderte. Unter den Landständen regte sich ebenfalls Widerstand. Zu diesen württembergischen Landständen gehörten die Prälaten und Äbte, die bürgerliche Oberschicht, die städtische „Ehrbarkeit“, das heißt die Abgeordneten der Ämter. Das Bauerntum und die ärmere Stadtbevölkerung waren bei den Landständen nicht vertreten. Auf dem Landtag zu Tübingen am 8. Juli 1514 erzwangen diese Stände, dass der Herzog auf die jüngsten Steuern verzichtete und ihnen weitere Rechte in der Verwaltung einräumte. Dafür übernahm der Landtag die herzoglichen Schulden. In der Folgezeit entwickelte sich dieser württembergische Landtag zu einem Grundstein der Demokratie. Doch eine „Empörerordnung“ forderte die Bestrafung derer, die „Ufflöf machen wider die Herschaft oder sunst wider die Ehrbarkeit, . . . der soll sein Leib und Leben verwirckt haben . . .“
Während in den Klöstern, Amtsstuben und Bürgerhäusern wieder Ruhe einkehrte, lagen so manche aufmüpfige Bauern und Rädelsführer im Gefängnis. Die Gerichtsakten berichten über das Schicksal des Oberlenninger Michel und die Bauern aus Brucken, Unterlenningen und Gutenberg. Das Urteil vom 20. Oktober 1514, Freitag nach Gallus, über Schwannfelder lautete:
„Michel Schwannfelder von Oberlenningen, wegen Teilnahme am Aufruhr zu Kirchheim im Turm gelegen, jedoch auf Fürbitte aus der Haft entlassen, verspricht, künftig alle aufrührerischen Reden und Handlungen zu unterlassen, sich wie ein Gelobter und Geschworener zu verhalten, und schwört Urfehde. Er verpflichtet sich ferner, zur Buße 20 fl an den Herzog zu zahlen, weder sich selbst noch sein Hab und Gut aus dem Fürstentum zu verändern, sich jederzeit wieder im Gefängnis zu Kirchheim zu stellen und die Strafe für weitere Vergehen, sollten ihm solche nachgewiesen werden, anzunehmen. Schwannfelder hatte Tag und Nacht mit andern aus Lenningen beratschlagt und auf einer Gemeindeversammlung angeregt, alle, die der Meinung seien, dass die drei Schützen der drei Dörfer dem Amtmann keinen Gehorsam schuldeten, sollten die Hand aufheben; außerdem hatte er zum Trotzbieten gegen den Schultheiß von Lenningen aufgehetzt, war nach Waiblingen und Schorndorf geritten und hatte in Peter Kruckenns Schenke zu Gutenberg die Ansicht vertreten, wenn der Herzog denen von Schorndorf das versprochene Geleit gehalten hätte, wäre es nicht soweit gekommen“.
Hans Hennckin, Josef Huber, Balthas Ruß und Mathis Ruß, Peter Kruken, Veit Schwann, Bartin Dietterich, Ulrich und Colin Schmid, Peter Amelin und Conntz Müller lagen ebenfalls „zu Kirchheim im Turme“. Die Unruhestifter waren wegen ihrer Reden angeklagt: „Man thue gemach das man dem armen Conrat zu hilff kom und man woll unns verkürtzen“.
Die aufwühlenden reformatorischen Gedanken von der Freiheit des Christenmenschen wurden ein Jahrzehnt später in ganz Deutschland zu einem Fanal, insbesondere die Bauernschaft verknüpfte Hoffnungen in ihrer politischen und wirtschaftlichen Lage, die sich mit dem Tübinger Vertrag nicht wesentlich gebessert hatte. Manch Oberlenninger, der wegen seiner aufrührerischen Reden für den Armen Konrad büßen musste, war bei den „Rotten wider die Obrigkeit“ wieder dabei. Die Aufständischen unterlagen den herrschenden Gewalten, dem Schwäbischen Bund. So findet sich in den Gerichtsakten vom 31. Mai 1525 beispielsweise folgendes Urteil:
„Veit Swan von Oberlenningen, wegen seiner Beteiligung am Bauernaufstand auf Ersuchen der Stände des Schwäbischen Bundes zu Kirchheim gefangen, jedoch auf Fürbitten freigelassen, verspricht, künftig gehorsam zu sein, treu zur Obrigkeit zu stehen, sein Leben lang alle Wirtshäuser und Zechen zu meiden, keine Waffen zu tragen außer einem abgebrochenen Brotmesser, Wehr und Harnisch dem Amtmann übergebe und schwört Urfehd“ – keine Rache zu nehmen.
In diesem Bauernkrieg hatten die aufwieglerischen Bauern hier ringsum Burgen und Adelssitze zerstört und in Brand gesteckt. Die Oberlenninger jedoch schleppten vom Schloss Wielandstein und den Burgställen nicht nur die Steinquader ins Tal. Auch sind Holzbalken auf Kuhkarren ins Tal gekommen. So ist mancher Balken von den bäuerlichen Raubzügen in Oberlenninger Häusern tragfähig geblieben, Gebälk, in denen sich die Zeiten abgelagert haben.
Wilhelm Zimmermann (1807 – 1878), Historiker, Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, später polizeilich Verfolgter, schließlich Pfarrer in Owen, ist der Verfasser des Standardwerks „Der große deutsche Bauernkrieg“. An der Owener Marienkirche erinnert eine Gedenktafel an den demokratisch gesinnten Geschichtsschreiber und Stadtpfarrer: „Wieder eine Woge, die sich brach und zerstäubte, aber der Strom ging vorwärts.“
Quellen aus dem Heimatbuch des Kreises Nürtingen Band 1 und 2, Würzburg, 1950/1953;
Hauptstaatsarchiv Stuttgart A44 Urfehden;
Wilhelm Zimmermann, Der große Bauernkrieg, Nachdruck Parkland, 1999