Professor Gotthilf Hiller beim Regionaltreffen der Kompetenzagenturen
Jugendliche lebenstüchtig machen

Es gibt verschiedene Maßnahmen, die benachteiligten Jugendlichen den Schritt in ein geordnetes Berufsleben erleichtern. Beim Regionaltreffen der Kompetenzagenturen in Kirchheim schlug Professor Gotthilf Hiller Naheliegendes, aber auch Unkonventionelles vor.

Kirchheim. Wer etwas Anständiges gelernt und einen festen Job hat, bei dem läuft auch sonst alles in geordneten Bahnen – so lautet eine weit verbreitete Annahme. Dass das so eben nicht ganz stimmt, hat der Sonderpädagoge und emeritierte Professor der Pädagogischen Hochschule Reutlingen, Dr. Gotthilf Hiller, herausgefunden. Eine Studie, an der er über zwölf Jahre hinweg mitgewirkt hat, und seine Erfahrungen aus der Praxis legen den Umkehrschluss nahe. Beim Regionaltreffen der Kompetenzagenturen im Kirchheimer Wächterheim stellte er sie vor und forderte neue Ansätze für junge Menschen, die durch alle Netze und Raster gefallen sind.

„Nicht die erfolgreiche Ausbildungs- und Beschäftigungskarriere ist Voraussetzung und Basis für die gesellschaftliche und soziale Integra­tion, sondern es ist eher umgekehrt“, betonte Gotthilf Hiller. In der Studie der PH Reutlingen und auch in anderen Untersuchungen beleuchten die Forscher nicht nur Schullaufbahn, Ausbildung und Beruf der Jugendlichen. Sie betrieben stattdessen „Lebensverlaufsforschung“ und lenkten ihre Blicke auch auf Bereiche wie Finanzen, soziale Netze, Zivilkompetenz, Zeitmanagement, Gesundheit, Legalität und Wohnsituation.

Denn – so die These Hillers – all diese Faktoren haben Einfluss darauf, ob junge Menschen ein erfolgreiches und geordnetes Berufsleben haben werden oder nicht. Genau diese Faktoren sind es aus Hillers Sicht auch, bei denen Schulen, Kommunen, Sozialarbeiter und andere Bezugspersonen ansetzen müssen.

„Vorrangig wäre eine Veränderung des Schulwesens notwendig“, sagte Gotthilf Hiller. Besonders für junge

Menschen aus bildungsfernen Schichten wäre es wichtig, ab Klasse sieben Angebote zu machen, die dabei helfen, schwierige Lebensumstände zu meistern. So sollten jedem Schulabgänger eine Leistungsmappe und ein Ordner für wichtige persönliche Dokumente zu Verfügung stehen. „Jeder junge Mensch braucht außerdem eine erwachsene Vertrauensperson“, so Hiller. Eigne sich keiner der Eltern oder Verwandten, so müsse ein Mentor oder Pate gefunden werden. Auch dass jeder bereits einen Ferien- oder Nebenjob absolviert, sich in einem karitativen Projekt beteiligt und einen verlässlichen Abschluss in der Tasche hat, hält Hiller für wichtig.

Eine besonders hohe Bedeutung misst der emeritierte Professor dem Thema Führerschein zu. „Wer einen handwerklichen Beruf wie Tischler oder Maler ergreifen möchte, braucht unbedingt einen Führerschein“, betonte Hiller. Für junge Menschen, die aus schlechten finanziellen Verhältnissen kommen, seien die Kosten aber kaum zu bewältigen. Die Folge: Die Berufschancen sinken.

Gotthilf Hiller versucht deshalb, auf kommunaler Ebene ein Projekt aufzubauen, das Jugendlichen über eine Art Mikrokredit-System ermöglichen soll, den Führerschein zu machen. Eltern oder Mentor sollen die Jugendlichen auf dem Weg zur Fahrlizenz begleiten und mit ihnen üben. Wünschenswert wäre es dem Sonderpädagogen zufolge auch, dass die Theorieprüfung als fester Punkt am Ende der Schulzeit steht.

An die Sozialarbeiter richtete er den Appell, sich stärker mit Freiwilligen zu vernetzen und mit ihnen zu kooperieren. „Das Ehrenamt darf nicht als Konkurrenz gesehen werden“, so Hiller. Vielmehr sollten ­Parallelstrukturen abgebaut werden. Beide Bereiche müssten sich gegenseitig ergänzen und befruchten – nur so könne es gelingen, die besten Wege für benachteiligte Jugendliche zu finden.