Bauhistoriker Ulrich Knapp und Architektin Sandra Rapp führen Besuchergruppen durch das Dachgebälk der Martinskirche
Kirchendach als Speicher der Stadtgeschichte

Großes Interesse zeigten die Kirchheimer am Sonntag an den Führungen im Dachgebälk der Martinskirche. Der Bauhistoriker Dr. Ulrich Knapp aus Leonberg erklärte anhand von Balken und Mauerwerk, wie sich das wichtigste Ereignis der Stadtgeschichte auf die Martinskirche ausgewirkt hat: der Stadtbrand.

Kirchheim. Am Abend des 3. August 1690 lag Kirchheims Innenstadt in Schutt und Asche. Nur einige wenige Gebäude hatten den verheerenden Stadtbrand unbeschadet überstanden – unter anderem der Chor der Martinskirche. So ist es im allgemeinen Bewusstsein der Kirchheimer verankert. Tatsächlich aber blieben „nur“ das Mauerwerk und die Gewölbedecke des Chors erhalten. Der Dachstuhl dagegen brannte größtenteils ab und stürzte auf das Chorgewölbe, wie Ulrich Knapp den zahlreichen Teilnehmern der Führungen am Sonntag berichtete.

Oberste Priorität beim Wiederaufbau der Stadt Kirchheim hatte denn auch der Chordachstuhl: Anfang September 1690 wurde hierzu bereits ein Vertrag mit dem Zimmermann Jerg (Georg) Friedrich Mayer abgeschlossen. Und bereits am 24. Dezember 1690 wurde die Quittung für die Schlussabrechnung ausgestellt. Das Dachwerk über dem Martinskirchenchor wurde also in nicht einmal vier Monaten geplant, fertiggestellt und bezahlt. Bereits ein Jahr später errichteten Jerg Friedrich Mayer und Konsorten auch den Dachstuhl über dem Kirchenschiff.

Relativ unbeschädigt seien die Dächer der Sakristei und des nördlichen Kirchenschiffs geblieben. In diesem Fall gebe es Rechnungen über den Abbruch der Dächer, wusste Ulrich Knapp zu berichten. Dass viele Balken wiederverwendet wurden, konnte er im Chordachstuhl ebenfalls de­monstrieren: Er richtete seine Taschenlampe auf einen Balken, an dem bis heute – also 322 Jahre nach dem Stadtbrand – noch deutliche Brandspuren zu sehen sind.

Der Großteil des Bauholzes für den Wiederaufbau freilich kam aus dem herzoglichen Forst in Adelberg sowie aus dem Schwarzwald. Die württembergische Regierung stiftete 130 Stämme zum Wiederaufbau, sagte Ulrich Knapp am Sonntag. Die „70-schühigen Stämme“ hatten nach heutigen Maßstäben eine Länge von knapp über 20 Metern. Es handelte sich bei dieser Spende um eine Art Sofortprogramm, wie es Regierungen auch heutzutage nach vergleichbaren Katastrophen auflegen würden. Die enorme Anzahl von 130 Stämmen aus herzoglicher Stiftung wird auch dadurch deutlich, dass die Kirchheimer weitere Stämme aus dem Adelberger Forst zukauften: 21 Stück.

Der Rest des Bauholzes für das Martinskirchendach stammte aus der näheren Umgebung Kirchheims sowie aus dem Oberamt Alpirsbach: Das Nadelholz wurde von dort neckar­abwärts geflößt bis Wendlingen. Das Floßholz war etwas kürzer, wie Ulrich Knapp mitteilte: Es hatte eine Länge von 60 Schuh.

Dass der Dachstuhl über dem Chor recht schnell errichtet worden sein muss, ist für den Bauhistoriker ebenfalls recht schnell zu erkennen: „Da wurde einfach was zusammengeschustert.“ Im Polygon beispielsweise – also im östlichsten Teil – seien fünfeckige Sparren rechtwinklig eingesetzt worden. Ulrich Knapps Urteil über diese Vorgehensweise ist eindeutig: „So was macht man nicht. So was habe ich auch noch nie gesehen. Das wurde einfach so schnell wie möglich gemacht.“

Am handwerklichen Geschick des Barock-Zimmermeisters Mayer kann es freilich nicht gelegen haben, denn das wiederum lobt der Experte des 21. Jahrhunderts an anderer Stelle ausdrücklich: Der eigentliche Dachstuhl zum Beispiel ist völlig unabhängig vom „Hängewerk“, das die Gewölbedecke des Kirchenschiffs hält. Friedrich Mayer habe 1691 den Druck des Gewölbes über das Hängewerk nach unten ins Mauerwerk geleitet. Gut 200 Jahre später dagegen habe Heinrich Dolmetsch bei seiner Sanierung einfach Druckriegel durchgesägt. Der Druck werde dadurch an manchen Stellen in Dachbalken eingeleitet, „wo nichts drunter ist“.

Auch einer Wand, die das Chordach vom Kirchenschiffdach trennt, kann Ulrich Knapp eine Menge baugeschichtlicher Details entnehmen. So gibt es dort unter anderem Abdrücke von Balken, die den Brand nicht überstanden haben. Die Fortführung der Balkenabdrücke im Mauerwerk verläuft nach Norden hin aber ganz anders als über dem südlichen Seitenschiff. Der Bauforscher vermutet also: „Die Kirche hatte vor dem Brand noch einen asymmetrischen Querschnitt.“ Anhand von „Wartesteinen“ wiederum kann Ulrich Knapp erkennen, dass einmal eine rechtwinklige Fortsetzung dieser Wand im Dachgestühl geplant war. Allerdings sei kein Mörtel nachzuweisen, sodass diese geplante Wand nie verwirklicht worden ist.

In Gerüstholzlöchern an der besagten Wand seien sogar noch verkohlte Holzreste vorhanden, teilte Ulrich Knapp am Sonntag mit. Die Reste würden bislang aber noch nicht ausreichen, um sie dendrochronologisch eindeutig zuzuordnen. Entweder seien die dazugehörigen Bäume im Sommer 1428 oder aber im Sommer 1442 gefällt worden. Beides könnte zu der Jahreszahl 1453 passen: 1453 ist der Chor der Martinskirche nämlich fertiggestellt worden – einer Inschrift zufolge, die mittlerweile verlorengegangen ist. 1428 wiederum würde als Fälljahr auch zu einem archivalischen Beleg passen, denn für 1428 seien Ausgaben dokumentiert: für eine Baumaßnahme, die allerdings nicht näher definiert ist.

Im Anschluss an Ulrich Knapp stellte Sandra Rapp vom Büro Bankwitz Architekten den interessierten Besuchern dafür eine aktuell geplante Baumaßnahme vor, die bereits näher definiert ist: In einem Jahr soll die Dachsanierung der Martinskirche beginnen. Das Tragwerk selbst sei noch in einem relativ guten Zustand, sagte die Architektin. Aber im Übergangsbereich zur Außenmauer der Kirche gebe es viele Stellen im Gebälk, die durch Wasser stark geschädigt sind. Die Sanierung habe Belange des Denkmalschutzes, des Fledermausschutzes sowie der Kirche als Eigentümerin zu berücksichtigen.

Der Fledermausschutz sieht vor, dass nur in der kalten Jahreszeit gearbeitet werden darf, weil sich das „Große Mausohr“ jedes Jahr von Mai bis September zu mehreren Hundert im Dachgebälk einnistet. – Vorschriften des Denkmalschutzes wiederum besagen, dass nur beschädigte Stellen der Balken ersetzt werden dürfen. „Wir müssen auch die alten Abbundzeichen wieder anbringen. Aber wir dürfen immerhin neues Holz verwenden.“ Die Dachziegel dagegen werden komplett durch neue ersetzt. Sie sind ohnehin nicht mehr original, denn zuletzt war das Kirchendach 1932 bis 1934 und 1960 zweimal komplett neu eingedeckt worden.

Am Rande konnte aber auch Sandra Rapp auf interessante historische Zusammenhänge verweisen: So gibt es im Dachgestühl noch Überreste von Kaminen, die im 19. Jahrhundert eingebaut worden waren, als es erstmals eine Heizung für die Kirche gab. Zumindest einer dieser Kamine soll sichtbar erhalten bleiben. Schließlich sollten auch künftige Bauforscher noch auf Überreste aller möglichen Bauphasen stoßen können.