In der Baugrube am Kirchheimer Postplatz ist Museumsleiter Rainer Laskowski auf interessante Funde gestoßen. Sie veranlassen ihn zu ganz neuen Schlüssen über die Geschichte der Stadt. Das Areal westlich der Lauter bezeichnet er gar als „das erste Industriegebiet Kirchheims“.
Andreas Volz
Kirchheim. Auf zwei ineinandergebaute Öfen ist Rainer Laskowski bei der Baustellengrabung gestoßen. Die nord-süd-ausgerichteten Öfen seien aber nicht mehr vollständig freizulegen gewesen, weil sie bereits vor rund 30 Jahren bei der Verlegung von Telekommunikationskabeln beschädigt worden seien. So wichtig wie die beiden Öfen ist für Rainer Laskowski das, was er im Umfeld gefunden hat: Reste von Verhüttungs- sowie von Schmiedeschlacken.
Vor Ort muss also Eisenerz verhüttet und weiterverarbeitet worden sein. Eine brisante Frage ist in diesem Zusammenhang die nach der Datierung. Rat holte sich Rainer Laskowski bei Guntram Gassmann vom Landesamt für Denkmalpflege. Der Experte habe die Schlacken auf das 11. und das 12. Jahrhundert datiert. Nicht gänzlich auszuschließen sei auch die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts, also die Zeit um das Jahr 1000 oder sogar noch davor. Das wäre ganz in der Nähe des Jahres 960, aus dem die älteste bekannte Urkunde stammt, in der Kirchheim – in der Schreibweise „chiricheim“ – erwähnt ist.
Somit könnte sich folgende Frage der Kirchheimer 1050-Jahr-Feier von 2010 plötzlich ganz anders beantworten lassen: „Was wollte Otto der Große mit Kirchheim anfangen?“ Durch einen Ringtausch mit dem Bischof von Chur und dem König von Burgund war der bedeutendste der Ottonen in den Besitz von Kirchheim gelangt. Gängige Lehrmeinung über die Hintergründe ist bislang, dass Otto I. einen wichtigen Alpen-Übergang sichern wollte, indem er seinem treuen Gefolgsmann, Bischof Hartbert von Chur, durch den Ringtausch entsprechende Besitztümer im heutigen Kanton Graubünden zuschanzte.
Das Interesse, das Otto an Kirchheim haben konnte, wurde als gering eingeschätzt und ließ sich nicht richtig erklären. Der inzwischen verstorbene Landeshistoriker Sönke Lorenz, der vor drei Jahren den Jubiläums-Festvortrag im Kornhaus hielt, sprach damals von einem denkbaren Interesse Ottos an Besitz, der ihm „die Überwindung des Albaufstiegs entlang alter Römerstraßen“ ermöglicht hätte.
Rainer Laskowskis neueste Hypothese fußt zwar noch auf schwachem Fundament, weil die genaue Datierung der Schlacken nicht geklärt ist. Aber trotzdem ließe sich dadurch erstmals zeigen, dass Otto I. ein durchaus handfestes Interesse an Kirchheim gehabt haben könnte: „Wenn wir die Schlacken in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts datieren könnten, dann wäre das der Beweis dafür, dass Otto der Große Kirchheim nicht nur wegen schöner Wälder und grüner Wiesen eingetauscht hat, sondern dass es ihm um die Eisenverhüttung ging.“
Kirchheim sei nur ein Teil eines weitaus größeren Montangebiets, das sich von Göppingen bis südlich von Reutlingen hinziehe und über das Rainer Laskowski sagt: „Das ist höchstwahrscheinlich das erste Ruhrgebiet Deutschlands.“ Rund um Kirchheim habe es besonders große Erzvorkommen auf dem Käppele bei Dettingen gegeben. Die wesentliche Zeit der hiesigen Eisenproduktion ist Rainer Laskowski zufolge zwischen 950 und 1100 anzusiedeln. Das sei also lange vor der Stadtgründung Kirchheims gewesen und falle noch in die Phase der Nellenburger: „Das darf man nicht mit den Zähringern oder mit den Teckern in Verbindung bringen.“
Die Stadtgründung Kirchheims ist für Rainer Laskowski auf dieser Baustelle ebenfalls eine wichtige Marke zur zeitlichen Orientierung: „Die letzten Funde stammen von Anfang des 13. Jahrhunderts. Danach bricht es ab.“ Vor der Stadtgründung jedenfalls habe das Areal am heutigen Postplatz eine große Rolle gespielt, was auch an der Lauter liege. Zum einen habe es hier einen Übergang gegeben, und zum anderen sei wohl die Wasserkraft ausgenutzt worden, um das Eisen zu bearbeiten. Der Gedanke an ein „erstes Industriegebiet Kirchheims“, das rund 1000 Jahre alt ist, läge demnach aus mehreren Gründen nahe.
Andere Funde auf der Baustelle sind Öfen in Ost-West-Ausrichtung, die aber nicht für Eisen, sondern für Keramik verwendet worden seien. Außerdem ist Rainer Laskowski auf Dachziegel des „Hirsauer Typs“ gestoßen. „Das sind die frühesten Dachziegel, die es gibt, und sie sind von sehr hoher Qualität.“ Was es mit den Ziegeln auf sich hat, ist allerdings nicht geklärt. Hier ist der Museumsleiter noch viel stärker auf Mutmaßungen angewiesen. Entweder seien die Ziegel als Reste vom Dach der Martinskirche irgendwann dort entsorgt worden, oder am heutigen Postplatz sei einstmals ein vergleichbar wichtiges Gebäude gestanden.
Trotz aller Rätsel um die aktuellen Funde gibt es aber auch so einiges, was für Rainer Laskowski feststeht: Zum einen sei die Zusammenarbeit der P&H Projektmanagement GmbH, die das Areal bebauen lässt, mit der Denkmalpflege vorbildlich. Zum anderen sei das für ihn selbst „ein abschließender Höhepunkt meiner offiziellen Tätigkeit in Kirchheim.“ Er werde sich aber auch im Ruhestand, der am 1. August beginnen soll, weiterhin ehrenamtlich für die Belange der archäologischen Denkmalpflege in Kirchheim einsetzen. Als nächstes kündigt er bereits eine „Großgrabung“ am Hegelesberg an. Dort handle es sich um eine „sehr dichte neolithische Besiedlung“ und um den „ältesten Siedlungsplatz Kirchheims“.