Kirchheim.
Als profunder Kenner der örtlichen Geschichte, als aktives Mitglied des Kirchheimer Verschönerungsvereins und als Mitglied im Projektteam des Landkreises Esslingen zur Erfassung der Kleindenkmale, hat Wolfgang Znaimer Zeugnisse der Vergangenheit gesammelt. Kleindenkmale – definitionsgemäß sind das ortsfeste, freistehende, kleine, von Menschenhand geschaffene Gebilde aus Stein, Metall oder Holz. 179 Exemplare hat Wolfgang Znaimer fotografiert und dokumentiert. Er hat Alter, Abmessungen, Standort, Eigentümer und Initiatoren festgestellt und alles in eine systematische Ordnung gebracht.
179 Kleindenkmale können nicht beschrieben werden, ohne beim Leser Ermüdungserscheinungen auszulösen. Warum nimmt man die beiden dicken Ordner, die die Projektleitung erhalten hat, dennoch gerne in die Hand? Der Autor hat Kirchheims historische Kleinodien nicht nur minutiös aufgelistet, er hat sie vielmehr in einen geschichtlichen Kontext gegliedert und dem Leser dadurch die Chance zur themenorientierten und ganzheitlichen Betrachtung eingeräumt. So werden chronologische Abläufe in der Entwicklung der Stadt erkennbar.
Die zeitliche Abfolge der Besiedlungsgeschichte Kirchheims lässt sich anhand der teils aus Naturstein, teils aus Betonguss gefertigten Stelen erschließen. Erste Spuren menschlicher Besiedlung im Kirchheimer Raum stammen aus dem Neolithikum, der Jungsteinzeit. Vor etwa 6000 Jahren – so beschreibt es die Bandkeramikerstele in der Hahnweidstraße in der Nähe des Ludwig-Uhland-Gymnasiums – bewohnten Bandkeramiker die fruchtbaren Lößfelder südlich der Lauter, auf dem Galgen- und dem Hegelesberg sowie in weiteren Gebieten. Bandkeramiker waren die ersten Menschen in Kirchheims Gefilden, die als Bauern den Übergang vom Nomadendasein zur Sesshaftigkeit vollzogen. Sie heißen so, weil sie mit der Herstellung von festen, keramischen Tongefäßen mit eingeritzten Motiven eine von mehreren Voraussetzungen – nämlich eine verbesserte Möglichkeit der Vorratshaltung – schufen, um die Kulturstufe der nomadisierenden Jäger und Sammler zu überwinden. Auf Kirchheimer Gemarkung sind nicht nur Keramikscherben aus jener Zeit gefunden worden. Es ist auch der Nachweis über größere Häuser, über Höfe mit Nebengebäuden geführt worden.
Ausgehend von der Bandkeramikerstele, bedarf es natürlich eines großen epochalen Zeitsprungs, wenn man sich danach mit dem Kirchheimer Keltenstein am Postplatz beschäftigt. Im letzten Jahrhundert vor der Zeitenwende war die Hallstatt- und die darauf folgende Latène-Kultur von keltischen Stämmen geprägt. Kelten besiedelten den süddeutschen Raum. Waren es Helvetier, waren es Vindeliker? Die Antwort liegt im Dunkeln. Die Römerstele am Gaiserplatz, der Alemannenstein am Ziegelwasen, die Stele am Wachthaus mit den vier Stadttoren und dem Stadtplan bieten vielfältige Anregungen, den weiteren Verlauf in der Siedlungsgeschichte Kirchheims zu verfolgen.
Der Römermeilenstein in der Osianderstraße zeigt anschaulich, wie sich in Kirchheim die Römerfernstraße – von Mainz über Cannstatt und Köngen nach Augusta vindelicorum, dem heutigen Augsburg, führend – teilte, um einen weiteren Weg über das Lenninger Tal und Donnstetten zur Donau zu erschließen. Kirchheim konnte sich zum idealen Marktplatz entwickeln. Der Beginn des mittelalterlichen Marktrechts bleibt freilich unklar, er kann jedoch am Münzrecht in Kirchheim abgeleitet werden, das offenbar im Jahr 1059 schon bestand. Kirchheim – ein Marktflecken: Schon im Mittelalter gab es den Wochen- beziehungsweise Krautmarkt, dem sich spezielle Märkte nach und nach anschlossen – der Stroh-, Holz-, Schweine- und Geflügelmarkt. In Kirchheim fanden sieben, später sechs regionale Jahrmärkte als Krämer- und Viehmärkte statt, wobei es bei der Anzahl der Viehmärkte im 19. Jahrhundert immer wieder zu Kontroversen mit der Kreisregierung, dem Ministerium des Inneren und der Zentralstelle für die Landwirtschaft kam. So wurde das Ansinnen der Kirchheimer, die jährliche Anzahl der Markttage zu erhöhen, des Öfteren abschlägig beschieden.
Der bedeutendste Markt im 19. Jahrhundert war allerdings der Wollmarkt – in einer Zeit, in der die Textilindustrie im deutschen Südwesten in voller Blüte stand. Er wurde von 1819 bis 1914 im Freihof als zentraler Landeswollmarkt abgehalten. Kirchheim mit seiner günstigen Lage in einem Gebiet, in dem die Schafzucht eine große Rolle spielte, musste sich allerdings der Konkurrenz der Städte erwehren, die ebenso die Konzession für einen Wollmarkt anstrebten. Hierzu gehörten das nahe gelegene Göppingen sowie Esslingen, Cannstatt und Heilbronn.
Dass in Kirchheim von alters her Märkte stattfanden, ist an vielen symbolischen Kleindenkmalen zu erkennen. An den Krautmarkt schloss sich räumlich der Geflügelmarkt an. Heute wird er durch Bronzeplastiken von Truthennen und einem Truthahn symbolisiert – 1971 und 1972 gefertigt in der Süßener Firma Strassacker, entworfen vom Bildhauer Fritz Melis. Der Rotgockel am Ötlinger Rathaus – in seinem gestalterischen Anspruch und in seiner technischen Ausführung deckungsgleich mit seinem verwandten Federvieh am Geflügelmarkt – besitzt allerdings keinen marktwirtschaftlichen Hintergrund. Vielmehr entstammt der Rotgockel einer Sage um reiche Ötlinger Bauern, die sich in Hochmut von ihren Nachbarn absondern wollten und deshalb auf die Höhe über dem Ort zogen. Sie bauten dorthin ihre Häuser und nannten den neuen Ort „Rot“. Eine Kirche bauten sie nicht, aber jeden Sonntag nach Ötlingen in die Kirche zu gehen, „fiel ihnen schon gar nicht ein. Wie nun“ – so heißt es in der Sage weiter – „eines Sonntags drunten im Tal die Kirchenglocken läuteten und zum Besuch des Gottesdienstes riefen, in Rot sich aber niemand zur Feier des Sonntags anschickte, ihnen zu folgen, da fing nach dem letzten Glockenton die Erde an sich zu spalten und verschlang die Häuser samt ihren Bewohnern. Über den Trümmern schloss sich der Boden wieder und ringsum herrschte eine beängstigende Stille. Nur dann und wann hörte man in der Tiefe einen Hahn krähen, dumpf und hohl. Daran erinnert man ein Ötlinger Kind, das nicht artig sein will und droht ihm: Gib acht, der Rotgockel kommt und nimmt dich mit unter den Boden!“
Bedeutende Menschen, die als Vorbild taugen, hält man in Ehren und im Gedächtnis. Wer aufmerksam durch Kirchheim läuft, entdeckt anhand von Kleindenkmalen Spuren von beispielgebenden und richtungsweisenden Männern und Frauen. Konrad Widerholt, nach dem Dreißigjährigen Krieg Obervogt in Kirchheim, der „Stromer“ und geniale Unternehmer Jakob Friedrich Schöllkopf und die Herzogin Franziska von Hohenheim sind so bekannte, viel beschriebene Persönlichkeiten, dass die ihnen zugehörenden Kleindenkmale nicht näher erläutert werden müssen. Doch wer war eigentlich Carl Mayer, wer Christian Friedrich Schlenker? Im Alten Friedhof befindet sich – gegenüber von seiner Grabstätte – eine Gedenkplatte aus Bronze, die auf Carl Mayer hinweist, einen engagierten Lehrer, bedeutenden Heimatforscher und aufrechten Demokraten. Er lebte von 1877 bis 1973. In einem Aufsatz „Sagen – Kritische Gedanken zu Erzählungen aus dem Raum Kirchheim“ hat Klaus Graf, Universität Freiburg, beschrieben, wie Carl Mayer zu derartiger Ehrbezeugung gelangen konnte. „Sagen um Teck und Neuffen“ ist Mayers mehrfach aufgelegtes Hauptwerk, in dem man auch die Sage vom Rotgockel nachlesen kann. Auch sein Heimatbuch „Unter der Teck“ enthält Erzählungen – insbesondere für den Leseunterricht in der Schule. Etwas despektierlich kritisiert Graf die „schwülstige Ausgestaltung“, das „übertrieben lebendige Kolorit der Heimatdichtung“ und den „Sagen-Kitsch in reinster Form“. Dieses Urteil sollte man allerdings nicht teilen, ohne Mayers Werke selbst einmal gelesen zu haben. Die Geschichte der Verena Beutlin liest sich in Mayers Sage „Die Veronikahöhle“ aus dem Jahre 1908 wie folgt:
„Nicht weit von der Teck entfernt ist der gelbe Fels. In seinem Gestein befindet sich eine Höhle. Verena Beutlin wohnte einst darin. Mit viel Fleiß und Geschick hatte sie sich die nötigen Hausgeräte verschafft und damit ihre Wohnung fein ausgestattet. Ein Loch im Felsen erhellte ihre Stube. Durch ein anderes Loch zog der Rauch aus dem Küchenraum ab. Die Leute im Tal wußten lang nichts von der Verena. Sie hielten den aufsteigenden Rauch für eine Nebelhaube. Nun hatte Verena zwei Knaben. Diese schickte sie zu den Bauern ins Tal, um zu betteln. Dabei wurden die Buben erwischt. Dadurch kam man auch der Mutter auf die Spur. Man hielt sie für eine Hexe und machte kurzen Prozeß mit ihr. Sie wurde verbrannt. Die zwei Knaben aber hat man in Owen getauft.“
Hervorzuheben bleibt, dass Carl Mayers Vita durch ein Berufsverbot unter den Nationalsozialisten gekennzeichnet war. Der Lehrer musste wegen seiner aufrechten, demokratischen Haltung seinen Dienst in jener Zeit quittieren.
In der Wellingstraße, Ecke Marienstraße, findet man die Plexiglastafel am ehemaligen Geburtshaus von Christian Friedrich Schlenker, dem Missionar der anglikanischen Kirche, der im Auftrag der „Church Missionary Society“ (CMS) in Port Loko in Sierra Leone wirkte. Die CMS war 1799 in London gegründet worden. Der Wunsch war, das Evangelium weltweit zu verkünden und die weltliche Ausrichtung der Kirche zu überwinden. Ein Aspekt war auch die damals noch existierende Sklaverei in Afrika. Das britische Empire hatte Sierra Leone als Keimzelle der Sklavenbefreiung betrachtet, da es dort ehemalige Sklaven ansiedelte. „It is the duty highly incumbent upon every Christian to endeavour to propagate the knowledge of the Gospel among the Heathen“ – so lautete die Resolution bei der Gründung der CMS. Innerkirchliche Widerstände, fehlende Missionare und schwere Erkrankungen mit hohen Todesraten unter den europäischen Mitarbeitern infolge der klimatischen Bedingungen, behinderten den Start in dem Land an der Westküste Afrikas.
Erste Erfolge erzielten zwei deutsche Anglikaner, Melchior Renner und Peter Hartwig, in Freetown, der heutigen Hauptstadt Sierra Leones. Die Missionare beschränkten sich nicht nur darauf, das Wort Gottes zu verkünden, sie etablierten auch ein christliches Schulsystem. 1845 eröffnete die CMS eine „grammar school“ in Freetown, 1849 startete eine „secondary girl’s school“. Zunehmend gelang es der einheimischen Bevölkerung – in der temnischen Bevölkerung gab es viele Christen –, Positionen in der Kirchenführung Sierra Leones zu übernehmen. Dies wurde durch den in Port Loko eingesetzten Kirchheimer Missionar Schlenker vor allem dadurch unterstützt, dass er die Bibel in die Temne-Sprache – eine der wichtigsten Landessprachen – übersetzte. 1864 veröffentlichte er in einem Londoner Verlag seine „Grammar of the Temne Language“.