Kassandra hat das Problem, dass keiner ihre Warnungen ernst nimmt. Sie kann den Untergang Trojas, den sie klar voraussieht, nicht verhindern, weil ihr niemand zuhört. – Wer auf die Umwälzungen durch den demografischen Wandel hinweist, dem geht es ähnlich. Winfried Kösters zeigt auf, dass sich niemand dem Thema entziehen kann und dass auf allen denkbaren Gebieten Handlungsbedarf besteht. Ob irgendjemand deshalb wirklich handelt, ist fraglich.
Einen Vorteil gegenüber Kassandra hat Kösters jedenfalls: Die Leute hören ihm zu. Denn geschickt verpackt er seine Botschaft in ein kurzweiliges „Infotainment“. Anstatt langweilige Grafiken an die Wand zu werfen, lässt er sein Publikum im Saal wandern. Und so zeigt er Migrationsbewegungen auf, anhand konkreter Beispiele der Menschen vor Ort. Das ist unterhaltsam und spannend. Aber es ist auch sehr manipulativ: Durch die Festlegung auf Angehörige, die am weitesten entfernt von Kirchheim sind, lässt sich natürlich aufzeigen, dass fast alle einen Migrationshintergrund haben. Ganz anders sähe das Ergebnis aus, würde man die Gegenprobe machen und nach denjenigen Angehörigen schauen, die möglichst eng mit Kirchheim verbunden sind.
Trotzdem bleibt unbestritten, dass der demografische Wandel die Gesellschaft vor große Herausforderungen stellt. Wie sich diese Herausforderungen meistern lassen, kann auch Winfried Kösters nicht vorhersehen. Diese Aufgabe bleibt den Kirchheimern überlassen – denjenigen, die sich in der Stadthalle zu Kirchheim bekannt haben: dazu, dass sie hier auch noch im Alter leben möchten.
Auf die Frage beispielsweise, ob Kirchheim ein Hallenbad braucht, hat die Demografie gänzlich entgegengesetzte Antworten parat. Einerseits müssen die Kinder, die gar nicht geboren werden, auch nicht schwimmen lernen. Andererseits ist jedes Kind, das geboren wird, so wichtig, dass es nicht als Nichtschimmer der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt werden darf. Es soll vielmehr seine 50:50-Chance wahrnehmen können, hundert Jahre alt zu werden.
Aber dann darf es nicht mit 65 Jahren aufhören zu arbeiten. Sonst sagt die Demografie nämlich ganz klar voraus: Kirchheim braucht kein Hallenbad, weil es die paar Einwohner, die in 20 bis 30 Jahren noch erwerbstätig sind, finanziell nicht über Wasser halten können. Diese Botschaft ist allerdings schon wieder zu kassandrisch. Keiner will sie heute wirklich hören – selbst wenn sie noch so witzig verpackt wäre.