Kreis Esslingen. Wie nah ist wohnortnah? Mit dieser Frage, die angesichts praller Kassen und schwarzer Zahlen in der Vergangenheit nicht wirklich gestellt werden musste, haben sich die Kreistagsfraktionen angesichts eines Defizits von 11,2 Millionen Euro der Kreiskliniken auseinanderzusetzen. Dabei ist den meisten Fraktionsvorsitzenden bereits klar, dass die Nähe zum nächsten Krankenhaus eine eher untergeordnete Rolle spielt. Spielen muss. Nicht nur, aber vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. „Ein Defizit von über 11 Millionen Euro, wie es für dieses Jahr erwartet wird, bricht dem Landkreis das Genick, wenn nicht schnell gegengesteuert wird“, erkannten die Kreistags-Grünen in ihrer Klausurtagung im Freilichtmuseum Beuren. Noch in diesem Jahr müssen laut Fraktionsvorsitzender Marianne Erdrich-Sommer weitere Maßnahmen beschlossen werden, um das Ergebnis zu verbessern. Anfang nächsten Jahres hält sie grundlegende Entscheidungen „ohne Tabus“ für nötig.
Ihr Credo – „die qualitativ hochwertige medizinische Versorgung und die Wirtschaftlichkeit zählen mehr als die Wohnortnähe“ – kann auch der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler im Kreisparlament, Alfred Bachofer, unterschreiben. Er verweist darauf, dass sich die Gewichte verlagert haben. „Die Wohnortnähe rückt immer stärker in den Hintergrund.“ Psychologisch spielt sie für die Bevölkerung noch eine Rolle, doch in Wirklichkeit sei ein zunehmender Patiententourismus zu beobachten. „Für planbare größere Eingriffe fährt man dorthin, wo man hört oder weiß, dass die Behandlung besonders gut ist.“ Der kurze Weg ins Krankenhaus habe daher nicht mehr diese hohe Bedeutung. Mit einem Blick ins flache Land im Norden und in die neuen Bundesländer spricht der Chef der Freien Wähler angesichts von sechs Standorten im Landkreis Esslingen von „paradiesischen Verhältnissen“. Auch Bachofer ist überzeugt, dass man im Kreis im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation nicht mehr sagen kann: „Alles aufrechterhalten.“ Viel mehr Wert legt er auf eine hervorragende Notfallversorgung: „Die muss optimal organisiert sein.“
Hohen Stellenwert hat ein optimal ausgebautes Notfallsystem im Landkreis Esslingen auch für den CDU-Fraktionsvorsitzenden im Kreistag, Martin Fritz, und die SPD-Fraktionschefin Sonja Spohn. „Eine gute medizinische Versorgung im Kreis ist wichtig. aber es muss nicht alles vor der Haustür liegen“, sagt Fritz. Wohnortnähe will er nicht nur in Kilometerangaben definiert wissen. „Patienten nehmen doch auch längere Wege in Kauf, wenn sie sich von Spezialisten behandeln lassen wollen.“
Für Sonja Spohn ist Wohnortnähe zwar ein Kriterium, „aber bei der heutigen Sachlage lange nicht das entscheidende“. Vielmehr geht es für sie um die Frage: „Wo bekomm‘ ich das qualitativ richtige medizinische Angebot?“ – und zwar eines, das auch wirtschaftlich vertretbar ist. „Wir müssen das tun, was langfristig trägt“, wendet sie sich gegen Schnellschüsse. „Und wenn die Argumentation schlüssig ist, kann das auch die Bevölkerung nachvollziehen“, ist sie überzeugt.
Für Ulrich Fehrlen, Fraktionschef der Liberalen im Kreistag, ist ebenfalls eine optimale Erstversorgung maßgebend. „Bei planbaren Eingriffen spielt die Entfernung ohnehin keine Rolle mehr“, weiß er.
Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner im Kreistag, Ulrich Deuschle, will eine Lösung, die die Kreiskrankenhäuser vor Ort weitgehend erhält. „In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist dies wichtig.“