Kirchheim. Schillers „Glocke“ rief, und alle kamen. Bis zum letzten Klappstuhl war der „Schulraum“ des Max-Eyth-Hauses besetzt. Doch umso intimer war die Atmosphäre,
Ulrich Staehle
und umso mehr Kontakt hatte Referent Werner Haubrich zu seinen Zuhörern.
Der aus Aachen angereiste gelernte Germanist und Rezitator schuf gleich eine geistige Nähe, indem er erzählte, dass er literarische Stätten der Region wie Cleversulzbach besucht habe. Passend dazu und zur Jahreszeit rezitierte er Mörikes „Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel“.
Dann aber war von Schillers „Lied von der Glocke“ die Rede. Die Wirkungsgeschichte dieses umfangreichen, 1800 fertiggestellten Gedichts ist zwiespältig. In bildungsbürgerlichen Kreisen wurde es sehr geschätzt und bei vaterländischen Feiern missbraucht. Heutzutage stößt es in antibürgerlichem Wind auf Ablehnung. So hat H.M. Enzensberger in seiner dreibändigen Schillerausgabe dieses Gedicht nicht aufgenommen, was heftige Proteste auslöste, selbst von Marcel Reich-Ranicki.
Haubrich stellte also die Frage in den Mittelpunkt, ob das Gedicht „Kulturgut“ transportiere oder nur noch eine „Lachnummer“ sei, wie schon frühzeitig geurteilt wurde. Das Gedicht besteht aus zehn Meistersprüchen, die die Stationen des Glockengusses beschreiben. Schiller kann mit den Fachbegriffen umgehen. Eine Glockengießerei in der Nachbarschaft gab ihm Anschauungsunterricht.
Zwischen den Stationen eines Glockengusses hat Schiller Einschübe eingefügt. Sie schildern Lebensphasen oder Ereignisse, bei denen die Glocke läuten wird, als da sind Geburt, Hochzeit, Feuersbrunst, gesellschaftlicher Umsturz, Tod: „Dem Schicksal leihe sie die Zunge;/Selbst herzlos ohne Mitgefühl/Begleite sie mit ihrem Schwunge/Des Lebens wechselvolles Spiel“.
Auf diese Zwischentexte konzentrierte sich der Referent, sie rezitierte und kommentierte er, weil sie Kulturgut höchsten Ranges seien. Dem Neugeborenen „ruhen noch im Zeitenschoße/die schwarzen wie die heitern Lose“ – großartige Verse, genauso wie die über die erste Liebe. Doch „Die Leidenschaft flieht,/Die Liebe muss bleiben“. Schillers Meinung war tatsächlich, dass Leidenschaft einer „ewigen“ Verbindung abträglich sei. Haubrich zitierte aus einem Brief: Günstiger sei eine „bedachte, temperierte“ Ehe – wie seine eigene.
Ein weiterer Einschub wirkt in der heutigen Zeit schon im Original wie eine Parodie. Vom Mann ist die Rede, der „hinaus muss ins feindliche Leben“, um den „Speicher mit köstlicher Gabe“ zu füllen, während „drinnen waltet/Die züchtige Hausfrau“. Ein Rollenverhalten, wie es zu Schillers Zeit selbstverständlich war. Zeitbezogen ist auch das Unglück, das in Form einer Feuersbrunst hereinbricht. Schillers Sprachgewalt entfaltet sich hier besonders prächtig. Aus der Zeit heraus zu verstehen ist auch Schillers Verurteilung revolutionärer Gewalt. Von einem, der die Französische Revolution begrüßte und der die „Räuber“ „in tyrannos“, gegen Tyrannengewalt, schrieb, war er angesichts der Radikalisierung und des Gemetzels ein erklärter Gegner geworden. Er verurteilt die „Würgerbanden“, gegen die sich der Bürger zur Wehr setzen müsse.
Die Totenglocke kann zu jeder Zeit und für jeden erklingen. Im Schillergedicht ist es die „teure Gattin“, von der man Abschied nehmen muss. Doch mit diesem Ton lässt Schiller sein Gedicht nicht ausklingen. „Konkordia“ soll die Glocke heißen und „Friede sei ihr erst Geläute“.
Dass dieses Gedicht Angriffsflächen bietet und zur Parodie reizt, ist klar, vor allem der Lobpreis (spieß)bürgerlicher Tugenden und der pathetische Stil. Goethe war generell gegen Parodien. Sie zögen „das Hehre herab“. Haubrich rechtfertigt sie als „versteckte Liebeserklärungen“. Das „Lied von der Glocke“ wurde unzählig oft parodiert. Bei den Kostproben gab es viel zu lachen. Inhalt und Stil reiben sich, wenn aus dem „Lied von der Glocke“ ein „Lied von der Socke“, „vom Bier“ oder „von der Pizza“ wird. Es gibt Parodien von Einzelversen – „Drum prüfe, wer sich ewig bindet/Ob sich noch etwas Bessres findet“– und „Gesamtwerke“ in originaler Länge wie das „Lied vom Konzert“, bei dem am Schluss zerrissene Saiten aus dem Konzertflügel hängen.
So viel Heiterkeit wie bei dieser sonntäglichen Matinee herrschte kaum einmal in einer hellwachen Zuhörerschaft im Max-Eyth-Haus. Das lag an der Kommunikationsfähigkeit des Referenten und daran, dass die Zuhörer mit diesem Gedicht aufgewachsen sind. Unter seinem „Dirigat“ rezitierte das Auditorium gemeinsam die komplette erste Strophe. Seine eigene Textsicherheit stellte Haubrich in einer Zugabe unter Beweis. Schillers „Bürgschaft“ bildete nach so vielen Einzelzitaten einen geschlossenen Abschluss.