Lenningen. Der Paul-Bonatz-Bahnhof bewegt nicht nur in der Landeshauptstadt die Gemüter. Wer aus den Albtälern mit dem Zug ins Land hinaus reisen will, kann kaum dem
umkämpften Stuttgarter Kopfbahnhof ausweichen. Seinem Erbauer wird ab Dezember im Frankfurter Architekturmuseum eine große Retrospektive gewidmet sein und im Frühjahr in der Tübinger Kunsthalle.
Wer zum Oberlenninger Kopfbahnhöfle geht, kommt auch an einem Bonatzbau vorbei: am Scheufelen’schen Verwaltungsgebäude. Den ursprünglichen Bau, ein herrschaftliches „Jugendstilschlössle“, entwarf 1901 der Stuttgarter Oberbaurat Ludwig Eisenlohr. Für die Erweiterung des Baus mit seiner Parkanlage und dem rechtwinklig angegliederten Flügel zeichneten die Stuttgarter Architekten Albert Eitel und Paul Bonatz.
Fährt man mit dem Auto talaufwärts auf der Linden umsäumten B 465, kommt man ebenfalls an Bauwerken der renommierten Architekten vorbei. Spätestens bei dem schmalen Überbau von der Verwaltung ins Fabrikareal mag man dies als Eingang in das schmucke Industriedorf Oberlenningen erleben oder gar als Tor zum Biosphärengebiet.
Das Bauern- und Handwerkerdorf war jahrhundertelang Verwaltungssitz der umliegenden Ortschaften: Hier residierten der „Oberlenninger Stab“ im zweistöckigen Markt- und Rathaus, die Edelfreien von Schilling zeitweise im Renaissance-Schlössle und im Fachwerk-Pfarrhaus die Geistlichkeit der romanischen Sankt Martinskirche. Ringsum lagen die einfachen Gehöfte, die kleinen Giebelhäuser und Werkstätten. Da und dort erhoben sich mehrstöckige Mühlenscheuern, Mühlen und Bürgerhäuser, schmückte ein kleines Domizil im Landhausstil die Landstraße. In den Wirtshäusern Adler, Lamm, Ochsen, Rössle oder Sonne feierten die Leute Hochzeit oder trafen sich zum geselligen Umtrunk.
Mit der unternehmerischen Tatkraft von Carl Scheufelen begann vor rund 150 Jahren auch in Oberlenningen das Industriezeitalter. Der Lauter-Kanalbau und die Turbinenanlage für Drehstrom 1893 am Kugelbergle waren eine energietechnische Pionierleistung. Die vom Fabrikanten erkämpfte und mitfinanzierte Bahnlinie eröffnete im Jahr 1899 mit dem Güter- und Personenverkehr neue Märkte, Arbeitsplätze, Bildungschancen und beflügelte die Wandervögel. Zur Einweihung der „Lenninger Thalbahn“ war der württembergische König angereist. Der ehemalige Ohmdener Lehrer und 1848er-Rebell, Carl Scheufelen, bewirtete mit Lauterforellen den hohen Gast in seiner Villa, die die Architekten Eisenlohr und Weigle drei Jahre zuvor noch im klassischen Gründerstil erbaut hatten.
Zu den schwäbischen Tugenden gesellte sich der Drang in die Weite, zur Wissenschaft: Die Chemie-, Physik- und analytische Mechanikstudien des ältesten Sohnes Adolf Scheufelen in Stuttgart und Tübingen, Arbeitsstellen in Österreich und England, befähigten ihn schon in jungen Jahren zur Übernahme der väterlichen Firma. Mit einem Generalplan
entwarf er den zukünftigen Aufbau des Unternehmens, das die finanzielle Unabhängigkeit und eine stetige Weiterentwicklung ermöglichen sollte. Der jüngere Bruder Heinrich ging in Dresden und Wien in die Kaufmannslehre bei Großbetrieben des Papierhandels. Der weltgewandte Kaufmann und Kunstkenner setzte sich dafür ein, dass die kühnen Gedankengebäude kongenial umgesetzt wurden.
Hermann Missenharter würdigt im Jubiläumsbuch „Hundert Jahre Scheufelen in Oberlenningen“ die baugeschichtliche Bedeutung in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: „Heinrich Scheufelen oblag es, für den ganzen Komplex der sehr verschiedenen Zweckbauten die architektonisch befriedigende Form zu finden . . . Er drang von Anfang an darauf, dass Architekten von Rang beigezogen wurden, die dafür sorgten, dass die Fabrik sich organisch der Landschaft einfügte, dieser besonderen Lage im Tal . . . und dass auch zu dem alten dörflichen Ortsbild mit den Giebelhäusern kein gar zu grausamer Kontrast entstehe . . . Es galt in Oberlenningen, zwischen schwäbischer Tradition und zweckgebundener Sachlichkeit ohne falsche Romantik den schöpferischen Ausgleich zu finden . . . Dass dies in vorbildlicher Weise gelang, ist . . . den Architekten Ludwig Eisenlohr, Albert Eitel und vor allem auch Paul Bonatz zu verdanken, die bewiesen, dass . . . Sachlichkeit und Nützlichkeit schön, freundlich, charaktervoll und trotzdem sich heimatlich darbieten können . . .“. Noch heute legt die Oberlenninger Papierfabrik darauf großen Wert: „Der Schutz einer über die Jahrhunderte intakten Symbiose aus Natur, Wohnen und Arbeiten hat eine besondere vorbildliche Stellung“, ist auf der Homepage 2010 zu lesen. „Natur und Bauten“ ist ein stets neu zu entdeckendes Thema.
Zug um Zug ging’s in das 20. Jahrhundert; Jahr um Jahr vergrößerte man die Fabrikanlagen, wuchs die Gemeinde, nahm die Zahl privater und öffentlicher Gebäude zu. Es war die Zeit, als noch die Postkutsche auf die Alb fuhr, in der Brunnenstraße ein Armenhaus stand, die Kinder auf Laubsäcken auf „dr Behne“ schliefen, der Nachtwächter in den Gassen und Wirtshäusern für Ruhe sorgte. In jener Zeit gab es in dem Marktflecken Oberlenningen Dutzende von Handwerks- und Gewerbebetriebe, Einzelhandelsgeschäfte. Eine Magd oder ein Dienstmädchen bekam Kost und Logis, keine 20 Mark im Monat. Ein
Maschinenführer im Zwölf-Stunden-Schichtbetrieb verdiente 40 Pfennige, eine Arbeiterin im Lumpensaal 9 Pfennige pro Stunde, Lohn für ein Ei oder einen Doppelwecken. Ein Zentner Kohle kostete 1 Mark 20. Alle Arbeiter der Papierfabrik waren seit 1888 in der Betriebskrankenkasse versichert.
In dieser Zeit prägten die elegant großzügigen Entwürfe von Eisenlohr (1851 – 1931) die Oberlenninger Bauepoche bis zum Ersten Weltkrieg: Das sind die Fabrikgebäude 2 und 3 mit dem Backsteindekor, der Pavillon mit dem offenen Dachstuhl und der Fahrradremise, das Portierhaus mit dem Torbogeneingang, die Kantine und die Werksbäder, ein nobles Beamtenwohnhaus mit Fachwerkelementen und durch einen Torbogen verbunden mit dem holzverkleideten Ökonomiegebäude, ein Mehrfamilienwohnhaus für die Werkmeister. Fast alle Bauten könnte Googles Street View an der Adolf-Scheufelen-Straße erfassen. Dazu kamen drei Beamtenwohnhäuser im Schlossrain, das Schulhaus und das Lehrerwohnhaus im Heerweg. Eisenlohrs architektonischer Weg vom Historismus über das Neubiedermeier zur „Klassischen Moderne“ zeichnet die geistige Wende von der Tradition zum zukunftsoffenen Fortschritt. Von seinen noch erhaltenen Bauwerken im In- und Ausland stehen heute viele unter Denkmalschutz. Ein bekanntes Beispiel ist das Schiller-Nationalmuseum in Marbach.
Nach dem Krieg ab 1918 konnte der Generalplan systematisch weiter umgesetzt werden. Sobald die Brüder Scheufelen die nötige tragfähige wirtschaftliche Basis erarbeitet hatten, förderten sie ebenso planmäßig die sozialen Einrichtungen. Der Stuttgarter Architekt Albert Eitel (1866 – 1934) entwarf die Einrichtungen der Firma, die „die Bevölkerung zu einem möglichst gesunden und kulturell aufwärts führenden Leben brauchte, vom geschmackvoll in das Orts- und Landschaftsbild eingefügten Arzt- und Gemeindehaus, vom Sportplatz und Schwimmbad bis zur Bücherei und zum schönen Saalbau, der zu-gleich als Turnhalle dient . . .“, lobte die Fachpresse diese Sozialbauten der 20er-Jahre. Die Albert-Eitel-Wohnhäuser erschlossen das Siedlungsgebiet unterhalb der Wielandsteine. Die Bauten dieses Architekten sind sachlich funktional und von schlichter Eleganz, die Proportionen mussten „im Lot“, also stimmig sein, ebenso die Farben von Verputz, Fensterläden und Dach sowie die Gartenanlage. Selbst für deren einfachsten Entwurf zog er den Stuttgarter Gartenarchitekten Otto Valentin zurate. Bis in die 50er-Jahre der Nachkriegszeit prägte sein Stil zahlreiche der örtlichen privaten Neubauten. Auch der Rathausneubau von Architekt Walter Aldinger kann diesem Stil zugerechnet werden. Zahlreiche Eitel-Bauten stehen landesweit heute unter Denkmalschutz.
In den 30er-Jahren hatte sich die Einwohnerzahl Oberlenningens seit der Jahrhundertwende nahezu verdoppelt, die Belegschaft war um das Fünffache angewachsen. In dieser Dekade „rundet sich die systematische Erweiterung der Firma unter der Meisterhand von Paul Bonatz (1877 – 1956) zur architektonisch harmonisch geschlossenen Anlage . . . damit wird all das verwirklicht, was technisch und betriebswirtschaftlich auf eine rationelle Gestaltung des Arbeitsflusses geplant war . . .“, würdigte die Fachwelt den Oberlenninger Musterbetrieb, „der sich möglichst reibungslos in seinen Lebenszusammenhang mit der Umwelt einfügt, beispielsweise der Papiersaalhochbau mit Verbindungsbau von 1930 und der Nordflügel der mechanischen Werkstatt von 1936. Paul Bonatz, Hauptvertreter der konservativen „Stuttgarter Schule“, war ein viel gefragter, vielseitiger Baumeister, der unter anderem die Universitätsbibliothek Tübingen, das Kunstmuseum Basel und das Opernhaus Ankara baute. Er lehnte die radikalen Vereinfachungen des Bauhaus-Stils ab, zollte aber durchaus Respekt „den gegliederten Kuben der Weißenhofsiedlung mit seinen malerischen Überschneidungen und hellen Farbtönen“. Heinrich Scheufelen ließ ihn seine Stuttgarter Villa in der Stafflenbergstraße entwerfen. Die hohen großräumigen Hallen mit Walmdächern prägten seinen Stil, die Weiterentwicklung der traditionellen Formensprache des „Heimatstils“; seine Brücken sind stets den Landschaften angepasst.
Noch erzählen die alten Oberlenninger, dass der Kunstkenner und Mäzen Heinrich Scheufelen die Proportionen und Farbtöne der Neubauten im Ort mit untrüglichem Blick kontrolliert und nicht jede Beliebigkeit geduldet habe. Über das Panorama der Dachlandschaften habe er von der Albhöhe aus prüfend seine Augen gleiten lassen, über die ziegelgedeckten klassischen Satteldächer, über Zwerchdächer mit Gauben, die Walm-, Fußwalm- und Krüppelwalmdächer mit und ohne Risaliten – Vorsprünge – und Stufen, über abgewalmte Mansardendächer, über Schleppdächer bei Scheunen und
Schober, über Pult- und Zeltdächer, Helm- und Turmdächer. Solche Dachstuhlkonstruktionen erforderten einst die Meisterschaft der Zimmerleute. Die Dachlandschaften in gedeckten Terrakotta-Farben ohne grelle Misstöne sollten dem heimatlichen Industrieort an der Lauter zwischen den Albhängen bestätigen: Alles ist unter Dach und Fach, ist gut behütet unter dem Schutz des schlanken Riesen, dem hohen Fabrikkamin.
Viele der hier erwähnten Oberlenninger Gebäude sind denkmalgeschützt. Doch das ist nicht rechtsverbindlich. Es sind Objekte, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatkundlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht, auch deren Umgebung, soweit sie für das Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist. Das Schlössle, die Sankt Martinskirche und die Ruine Wielandstein sind in das Landesdenkmalbuch eingetragen.
Umweltschutz ja – Denkmalschutz – na ja. Die Planungshoheit einer Gemeinde hat ein strenges Reglement zu beachten, wenn Veränderungen den Charakter eines Bauwerks beeinträchtigen. Einen Spagat erfordert das schon zwischen Abriss maroder Häuser und Werkstätten, Erhalt einer historischen Bausubstanz und energetisch sinnvoller Renovierung. Manches Bauwerk wurde aus der Lenninger Liste der „unbeweglichen Bau- und Kunstdenkmale“ gestrichen: zu verwegen waren die Farben des Verputzes, zu sorglos war die Entsorgung von Sprossenfenstern, Fensterläden und Kunstschreinertüren, zu bedenkenlos Stuckdecken mit Rigips, Parkettböden mit Linoleum, Holzverkleidung mit Eternit verdeckt, versteckt, verkleistert worden. Noch ist die Baukultur der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Oberlenningen weitgehend erhalten, gepflegt, aber auch noch angegraut renovierungsbedürftig vorhanden.
Lenningens ländlicher Charme mit dem Flair der „Klassischen Moderne“ ist nicht nur in die Alblandschaft eingebunden: Das Oberlenninger denkmalgeschützte Kopfbahnhöfle lädt ein zur Fahrt „uf dr schwäbsche Eisebahne“ – nach Stuttgart zum (noch) bestehenden Kopfbahnhof oder nach Ulm, um in Ulm ums Münster herum Ulms neue Mitte zu erleben.