Bissingen. Der Kunst- und Aktionspfad der Ziegelhütte hat jede Menge Kunst zu bieten. Und auch Aktionen gab es in den vergangenen Wochen jede Menge: Konzerte, Theater, Kino oder Workshops. Ganz besondere Aktionen aber, die direkt mit den Kunstwerken zwischen der Ziegelhütte und Ochsenwang zusammenhängen, das sind die Führungen mit Schülern der Jugendhilfeeinrichtung. Zwei Schüler sind sieben Vormittage lang gezielt darauf vorbereitet worden, alle Arten von Gruppen auf dem Kunstpfad zu führen und Hintergrundinformationen über die Werke zu liefern.
Eine dieser Führungen – zufällig ausgewählt – hat Samuel Geißler geleitet. Der junge Mann hat gerade auf der Ziegelhütte seinen Schulabschluss erfolgreich hinter sich gebracht. Seine besten Fächer sind die Naturwissenschaften, sagt er immer wieder, wenn er in erfrischender Offenheit zugibt, dass er in Geschichte oder Literatur nicht ganz so bewandert ist wie in Physik, Chemie oder Biologie. Mit derselben Offenheit hat er aber gleich zu Beginn der Führung die Lacher auf seiner Seite. Es sei gar kein Problem, eine Seniorengruppe zu führen, meint er und fügt augenzwinkernd an: „Ab September arbeite ich in der Altenpflege.“
Die „60 plus“-Gruppe aus Zell und Aichelberg ist nicht nur aufgeschlossen für Humor und für ihren jugendlichen Skulpturenführer. Sie ist auch sonst eine bewusst offen gehaltene Einrichtung. So muss nicht zwingend in Zell oder Aichelberg wohnen, wer sich anschließen möchte. Und man muss auch nicht zwingend älter als 60 Jahre alt sein. Deshalb nimmt auch eine Familie mit zwei kleinen Kindern an der Seniorenführung teil.
Samuel Geißlers Schwerpunkte liegen auf technischen Details. Beim Labyrinth von Chartres, das an der Ziegelhütte vor zwei Jahren in Originalgröße nachgebaut wurde – unter Verwendung natürlicher Materialien – erklärt er zunächst, dass die Strecke aus elf Kreisbahnen besteht. Dann lässt er die Gruppe schätzen, wie lang der Weg von außen nach innen ist. Die exakte Zahl lässt sich durch Schätzung zwar nicht erreichen: Es sind 261,5 Meter. Aber diese Zahl wiederum hat einen genauen Bezug zur direkten Entfernung zwischen außen und innen, zwischen Anfang und Ende. Die Strecke ist nämlich das 40-Fache der Luftlinie. Samuel Geißler bringt das in Verbindung mit der 40-tägigen Fastenzeit vor Ostern und mit der 40 als „Zahl der Reinigung“.
Und auch sonst weiß er dem Labyrinth die passende Symbolik abzugewinnen: Es handle sich um einen fortlaufenden Weg, auf dem es keine Irrwege gebe. „Wenn man das Labyrinth begeht, sollte man sich nur auf sich selbst konzentrieren.“ Der Weg entspreche dem Lebensweg – mit Umwegen als Höhen und Tiefen. Aber jeder einzelne Rückschritt sei letztlich auch „ein Weg zum Ziel“. Entscheidende Wendepunkte – diejenigen also, die einen Richtungswechsel um 180 Grad verlangen – sind in der Ziegelhütten-Version des Labyrinths durch einen großen Stein markiert. Die Anzahl dieser Brocken kennt Samuel Geißler nicht, und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn in jedem Leben gibt es unterschiedlich viele Wendepunkte. Meistens sind es aber sehr viel mehr, als man denken würde.
Ein entscheidender Wendepunkt für die Jugendlichen auf der Ziegelhütte ist der Zeitpunkt, zu dem sie in der Jugendhilfeeinrichtung ankommen. Auch für Samuel Geißler ist dieser Zeitpunkt von großer Bedeutung, und einige der Kunstwerke, die derzeit ausgestellt sind, erinnern ihn daran. Da ist beispielsweise der überdimensionale Pfeil aus Buchenholz, der die richtige Richtung weisen könnte. Samuel Geißler hebt aber vor allem darauf ab, dass die entscheidende Stelle an diesem Kunstwerk gar nicht künstlich ist, sondern natürlich: Es ist die Stelle, an der der starke Ast vom Buchenstamm abgebrochen ist. „Da hat sich etwas getrennt“, sagt der Kunstpfadführer und vergleicht das mit der Situation der Jugendlichen, wenn sie am Randecker Maar einrücken: „Wir sind getrennt von zuhause, kommen hierher und wissen am Anfang gar nicht so genau, was wir hier sollen.“
Das nächste Kunstwerk vertieft diesen Eindruck, gibt aber auch schon eine Antwort auf die entscheidende Frage: Es ist ebenfalls ein Baum, dieses Mal sogar ein Stamm. Aber der Stamm steht auf dem Kopf und streckt die Wurzeln in den Himmel. „Für uns ist am Anfang auch alles neu und steht irgendwie auf dem Kopf“, sagt Samuel Geißler, bevor er auf den Stahlrahmen eingeht, der den Stamm umfasst – mit teilweise fließendem Übergang. Die Interpretation ergibt sich beinahe von selbst: „Der Rahmen gibt neuen Halt.“
Auch bei einem der größten und beeindruckendsten Kunstwerke wird Samuel Geißler philosophisch: Es ist der Drache von der Limburg – in Sichtweite zum namengebenden Berg, der weit unterhalb vom Drachenstandort liegt. Samuel Geißler reißt kurz die Sage an, wie dem Untier regelmäßig Menschenopfer zugeführt werden, und erklärt dann, welche entscheidende Regel für das menschliche Zusammenleben mit dieser Vorgehensweise verbunden ist: „Allgemeinwohl geht vor Eigenwohl.“ Das Gemeinsame ist an diesem Werk freilich besonders augenfällig, denn es ist eine Gemeinschaftsarbeit von vielen Helfern, nicht zuletzt beim Aufbau vor wenigen Wochen. Immerhin sind dabei 8,2 Tonnen Holz verarbeitet und 2,3 Tonnen Stahl, wie Samuel mit seiner Vorliebe für technische Zahlen und Details ausführt.
Eine Gemeinschaftsarbeit, an der sich die Besucher interaktiv beteiligen können, ist die Steinpyramide ein paar Meter weiter. Alle sind aufgefordert, daran weiterzuarbeiten und das Kunstwerk in die Höhe zu bringen. – Robust genug, um sogar darauf herumzuklettern, sind die „Wurzeltiere“. Sie tauchen auf, nachdem der steilste Anstieg der Strecke erklommen ist. Allerdings ist es nur der zweitjüngste Teilnehmer, der herumklettern darf. Er ist noch keine drei Jahre alt. „Ihn hält‘s aus, mich nicht“, sagt Samuel Geißler lapidar.
Bei den „Sprechenden“ jedoch, die an Figuren von der Osterinsel erinnern, ist das Berühren nicht ganz ungefährlich. „Wir konnten hier kein Betonfundament machen“, erklärt der Aktionspfadführer, warum die beiden Figuren leicht kippen könnten. Seine eigene Interpretation der Szene hat er auch: „Die Figur mit dem offenen Mund ist die Frau. Der Mann gegenüber lächelt nur und hört zu.“
Kurz danach ist Samuel Geißler das Heft des Handelns aus der Hand genommen. Bei der Schlange, die aus einem Stück natürlich gewachsenen Holzes geschaffen ist, kommt die thematisch passende Verführung in Gestalt eines Eiswagens. Perfekter hätte sich die Führung gar nicht inszenieren lassen. – Am Hölderlin-Kunstwerk „Hyperion“ auf der anderen Straßenseite endet die Führung auf halber Strecke, wie vorher vereinbart. Und auch hier kommt es noch einmal zu einer unvorhergesehenen Begegnung mit einem großen Fahrzeug. Der Landwirt ist gut gelaunt und unterhält sich von seinem erhöhten Sitz aus mit der Gruppe, die die Abwechslung dankbar aufnimmt. Eine Erfrischung hat er leider nicht anzubieten, erst recht keinen Most. „Da muss man vorsichtig sein“, meint er verschmitzt, „hier sind in letzter Zeit so viele Wanderer unterwegs.“
Damit hat also der Landwirt zum Abschluss der Führung die Lacher auf seiner Seite, und Samuel Geißler stellt etwas resigniert fest, dass jede Führung anders abläuft und dass sich nicht immer alles wie von ihm gewünscht lenken lässt: „Heute läuft‘s nicht ganz so gut.“ Aber das ist nicht weiter schlimm, denn gedanklich ist der junge Mann sowieso schon in den Ferien. Und nach den Ferien warten ganz andere Aktionen und Erlebnisse mit Senioren auf ihn.
Der Kunst- und Aktionspfad der Jugendhilfeeinrichtung Ziegelhütte am Randecker Maar zeigt Werke von Mitarbeitern und Jugendlichen der Ziegelhütte sowie von Künstlern und Bürgern aus der Region. Offiziell ist der Pfad noch bis Sonntag, 29. Juli, zu besichtigen. Der Abbau beginnt nächste Woche.