Direkt gegenüber dem Kirchheimer Bahnhof entsteht das „Quartier 107°“ mit ganz verschiedenen Wohnformen
Leben mit kurzen Wegen

Wohnen mitten in der Stadt – Wer wüsste das heutzutage nicht zu schätzen? Doch der Markt in Kirchheim ist ziemlich leer gefegt. Jetzt entsteht ein neues, innovatives Wohnprojekt in Bahnhofsnähe: das „Quartier 107°“.

Kirchheim. „Einfach anders wohnen“ lautet der Slogan, mit dem Dyck Bauen und Wohnen für das neue Konzept wirbt. Der Slogan trifft in vielerlei Hinsicht den Nagel auf den Kopf. Bei der Realisierung des Vorhabens sitzen nämlich der Bauunternehmer und die Kirchheimer Lebenshilfe in einem Boot. Die ungewöhnliche Allianz fußt auf der Grundüberzeugung, dass beide Seiten nur voneinander profitieren können.

Sowohl Wohnungen für stationäre Unterbringung als auch Wohnungen, in denen Menschen mit Behinderungen weitgehend eigenständig leben können, werden in Kirchheim dringend benötigt. Martin Wirthenson, Geschäftsführer der Lebenshilfe, hat eine lange Warteliste vorliegen. „Beide Wohnformen sollen hier im Verbund angeboten werden“, freut er sich. Geplant ist, im Erdgeschoss des neuen Gebäudes neben Geschäftsräumen auch fünf Appartements unterzubringen, die als Eigentumswohnungen an Menschen mit Behinderungen vermietet werden sollen. Der erste Stock wird ganz der Lebenshilfe gehören mit zwei Wohngruppen zu je sechs Plätzen samt dazugehörigen gemeinsamen Wohn- und Lebensbereichen.

Bärbel Kehl-Maurer, Vorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim, ist begeistert von der Perspektive für die Menschen, die von der Lebenshilfe betreut werden. Für sie gilt nämlich in vielerlei Hinsicht exakt dasselbe wie für jeden anderen auch: Sie schätzen es, mitten in der Stadt zu wohnen und ein Leben der kurzen Wege zu führen.

Da dieses Ziel immer mehr Menschen haben, bietet das Quartier, das den Namen 107° aus der Krümmung der Außenwand hat, im zweiten Obergeschoss fünf große Wohnungen und darüber drei Penthouse-Wohnungen mit ansprechendem Patio. Der Begriff „Quartier“ soll zeigen, dass man hier nicht nur wohnen, sondern auch leben und sich wohl fühlen kann. Im Keller gibt es eine Tiefgarage, und ein Aufzug verbindet die Stockwerke. Im oberen Bereich ist das Vorhaben also eher ein „klassisches Bauträgerprojekt“, wie Marketingleiterin Inge Mess von Dyck Bauen und Wohnen erläutert.

Erst die Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe macht das Konzept zu etwas Besonderem: „Wir wagen den Quantensprung, weil wir von dem Projekt überzeugt sind“, fasst Willi Dyck zusammen. In kleinerem Stil hat er schon gute Erfahrungen bei dieser Kooperation gesammelt, beispielsweise in einem Gebäude in der Henriettenstraße. „In anderen Städten gibt es schon viele Wohnprojekte dieser Art, und sie werden von allen Seiten als Bereicherung empfunden“, sagt Bärbel Kehl-Maurer. Für die Lebenshilfe ist es von Vorteil, dass das Personal aus den stationären Gruppen im Notfall auch für die Menschen, die in Appartements zurechtkommen, verfügbar ist. „Allein leben muss eingeübt werden“, erläutert Martin Wirthensohn, dass der lose Kontakt zur stationären Gruppe ein großer Vorteil ist. – Übrigens auch für den Vermieter, der weiß, dass das Personal der Lebenshilfe ein Auge auf das Appartement hat.

Die Zahl der Menschen mit Behinderung, die alleine und möglichst selbstbestimmt leben wollen, wächst ständig. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass diejenigen, die jetzt erwachsen sind, bereits intensive Frühförderung genossen haben und ganz gut allein zurechtkommen. Die Vertreter der Lebenshilfe stellen der Kirchheimer Bevölkerung beste Noten aus: Überall, wo Menschen mit Behinderung untergebracht sind, stoßen sie auf große Akzeptanz. Das ist wichtig, denn Teilhabe und Inklusion können nur dann funktionieren, wenn sie auf Solidarität in der Gesellschaft treffen.

Trotz aller guten Erfahrungen ist das innovative Projekt für Bauträger und Lebenshilfe ein Stück weit ein Wagnis. „Ein solches Objekt zu kaufen ist das eine, es zu betreiben ist das andere“, betont Wirthensohn. Die Betreuung in kleineren Wohneinheiten ist zwar erklärter Wille im Kreis, sie ist aber auch personalintensiver und damit teurer. Auf entsprechendes Verständnis seitens der Kostenträger hoffen die Betroffenen auch für die Zukunft. Die bloße Finanzierung der Wohnung kostet die Lebenshilfe mehr als eine Million und kann nur gelingen dank der Unterstützung durch das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren des Landes und Sponsoren.

Willi Dyck wiederum hat das Gelände an der Ecke Kolbstraße/Schöllkopfstraße gegenüber dem Bahnhof erworben und kann längst eine gründliche Planung vorlegen, die in Kooperation mit der Stadt erarbeitet wurde. Schallschutzmaßnahmen sorgen dafür, dass sich die Stadtnähe nicht negativ auf die Räume auswirkt und hohe Wohnqualität garantiert ist. Jetzt hofft der Bauunternehmer, vor allem für die Appartements, die Menschen mit Behinderungen vorbehalten sein sollen, auf Investoren, deren Herz für das ungewöhnliche Konzept schlägt. Im oberen Bereich setzt er auf eine gute Durchmischung der Generationen und kann sich in zentraler Lage, umgeben von Kindergärten und Schulen, auch junge Familien gut vorstellen.

Dass sich zwischen Postplatz und Bahnhof in den nächsten zehn Jahren viel tun wird, steht außer Zweifel. So will sich noch dieses Jahr der Gemeinderat erneut mit der lang ersehnten Bebauung des Steingau-Quartiers auf dem ehemaligen EZA-Areal befassen. Bis dort die Bagger anrollen, könnte im „Quartier 107°“ schon das Leben pulsieren: Noch im Oktober 2014 ist der erste Spatenstich geplant, und so manch ein Bewohner wird dort wohl in seiner eigenen Wohnung schon das Weihnachtsfest 2015 feiern können.