Der Abgang ist stilecht für einen Tarzan. Auch für einen kleinen Tarzan. In der Rolle des jungen Dschungelhelden schwingt sich Leo nach rechts von der Bühne und wird nahtlos vom einschwingenden Bob van de Weijdeven in der Rolle des erwachsenen Tarzans abgelöst. Der Applaus der beinahe 1800 Zuschauer im Stage Palladium Theater in Stuttgart ist frenetisch. Kein Wunder, der Neunjährige aus Wendlingen spielt den kleinen Tarzan mit Talent, Spielfreude und Disziplin. Bereits zum elften Mal schlüpfte Leo am Dienstag in den ikonischen Lendenschurz der Disney-Musicalfigur, die auf den Romanen von Edgar Rice Burroughs basiert. Zuvor empfing Leo die Wendlinger Zeitung hinter den Kulissen zum Gespräch – und nahm sie mit in die Maske und zum Warm-up.
Kurz nach halb fünf. Noch beinahe zwei Stunden bis zur Vorstellung. Für Leo sind alle Handgriffe Routine. Er absolviert sie schnell, konzentriert. Ohne Hast. Bevor er sich zum Reporter aufs Sofa setzt. Im richtigen Leben besucht er die dritte Klasse der Wendlinger Ludwig-Uhland-Schule. In seinem Bühnenleben ist er einer der kleinen Tarzans. Zwei- bis dreimal macht er das im Monat. Bis zu 30 Auftritte dürfen Kinder spielen. Das wird Leo nicht mehr schaffen. Erst im Dezember hatte er seine eigene Premiere. Und im September schon wird Tarzan seinen Musical-Dschungel auf Stuttgarts Höhen verlassen.
Leos Vater ist Bühnentechniker
Dass Leo einer der kleinen Tarzans wurde, ist kein Zufall. Der Herr Papa ist Bühnentechniker am Stage Palladium Theater – und nebenberuflich Schauspieler. Da hat Leo ab und zu schon zugeguckt. Und als die Eltern ihn fragten, ob er ein kleiner Tarzan werden wolle, sagte er ja. „Wir haben dann zuerst den Film angeschaut“, gesteht er. Klar, für die heutigen jungen Generationen gehört der an Lianen schwingende Mann mit dem markanten Ruf nicht mehr unbedingt zum Kosmos kindlicher Allgemeinbildung.

Dann aber ging es los. Beim ersten Casting war Leo noch zu jung. Beim zweiten klappte es. Dass ihm das Tarzanspielen so richtig Spaß macht, nimmt man ihm ab. Leo: „Ich fand es toll mit den Affen und dem Fliegen.“ Kennt er dann überhaupt Nervosität? Oh ja. Vor allem vor seiner Premiere. Und vor jeder Aufführung ist der kleine Schauspieler immer noch aufgeregt, sagt er. Das gehört dazu. Schärft die Sinne.
Lampenfieber gehört zum Geschäft
Überhaupt ist eine gute Vorbereitung das beste Mittel gegen Lampenfieber. Deshalb geht es immer zu den Übungseinheiten, auch wenn mal die Lust nicht so groß ist. Es gibt Gruppentraining. Es gibt Einzeltraining. Immer dabei ist David Giss. Er ist Leos Kinderbetreuer. David weiß, was kleine Tarzans brauchen. Der junge Mann aus Zell unter Aichelberg war nämlich selbst vor zehn Jahren als damals Zehnjähriger als kleiner Tarzan auf der Musical-Bühne unterwegs. Er sagt zur Frage nach dem Lampenfieber: „Das ist Gewohnheit. Und die Kinder sind sehr gut vorbereitet.“
Freilich müssen also auch kleine Künstler große Opfer bringen. Mit dem Schwimmen und dem Fußball beim TSV Wendlingen hat Leo erst einmal aufgehört. Tennis klappt noch. Aber es gibt ja ein Leben nach dem Musical, das für Leo wieder im Herbst startet. Und er liebt alles, bei dem er sich bewegen kann. Sein Talent für die koordinierte Bewegung zeigte sich schon beim Kinderturnen.
So richtig Gas geben, das kann Leo auf der Musicalbühne und beim Üben für den Auftritt. Trainiert wird das Singen. Das Schauspielern. Und die Akrobatik. „Alles zusammen macht am meisten Spaß“, antwortet Leo auf die Frage nach seinem Favoriten. Das mal später weiter oder wieder zu machen, das kann er sich schon vorstellen, sagt der Neunjährige mit einem strahlenden Lächeln.
Die Perücke muss fest und perfekt sitzen
Kurz vor 17 Uhr. Noch eineinhalb Stunden bis zur Vorstellung. Jetzt geht es erst einmal in die Maske. Warm ist es hier überall. Das ist gut für alle kleinen Tarzans. Denn ihr Kostüm ist natürlich klassisch-spärlich. Da kümmern sich gleich zwei Stilisten um Leos langes Haar. Das wird kunstvoll gelegt, „geschneckelt“, sagen die Profis. Damit der Strumpf und dann die Tarzan-Perücke darüber passen. Unter der künstlichen Haarpracht sind auch der Sender, das Mikrofon und die Ersatzausrüstung untergebracht. „Warum kitzeln Haare eigentlich?“, fragt Leo. Der Profi meint, es sei doch für die Schönheit. Leos Konter: Kitzeln könne man ja nicht sehen. Egal: Die Frisur muss sitzen. Auch beim affengleichen Herumturnen, beim Schwingen in schwindelerregenden Höhen unter der Bühnendecke. Bei jeder Flugrolle.
All das wird gleich im Anschluss beim Warm-up in der kleinen Turnhalle mit dem riesigen Mattenfeld und den gigantischen Spiegeln an der Wand schon geübt. Die Stockwerke dorthin müssen per Treppe überwunden werden. Aufzugfahren ist für die Darsteller kurz vor der Aufführung strengstens verboten. Denn: Was wäre, wenn der Lift stecken bleiben würde?
Beim Aufwärmen wird die ganze Show des kleinen Tarzans noch einmal durchgespielt. David Giss schlüpft dabei in die verschiedensten Rollen. So bewegen sich Bühnenäffchen authentisch. Schnell. Biegsam. Dynamisch. Voller Spaß. Voller Präzision.
Die Show ist ein grandioses Feuerwerk
Zum Einsingen wird Leo anschließend von Boris Ritter, dem Dirigenten des „Tarzan“-Musicals höchstpersönlich, am Klavier begleitet. Die Tonleitern geht es rasant und treffend rauf und runter. Ein Darsteller gesellt sich kurz zum Duett dazu. Nebenbei erklingt die Durchsage: „Noch 30 Minuten bis zur Show.“
Und diese Show ist ein Feuerwerk an tollen Melodien, einer eingängigen Story und atemberaubenden Akrobatik- und Tanzszenen, bei denen Tarzans Affenfamilie immer wieder auch durch die Parkettreihen singend hüpft und turnt – und an Theaterlianen schwingend im Luftraum über Publikum und Bühne kreuzt. Wie Leo seine Show meistert, ist kaum zu glauben. Die Präsenz des kleinen Mannes auf der großen Bühne: Einfach atemberaubend. Singen, tanzen, schwingen, alles geht zugleich Hand in Hand.
Bevor sich Leo von der Bühne schwingt und mit dem großen Tarzan tauscht, singt er mit seinem Bühnenfreund Terk zusammen vom großen Wert der Freundschaft. Das ist seine Lieblingsszene. „Wir singen und fliegen“, hat er vorher im Interview erklärt. Ja, und manchmal steht auch sein Papa hinter der Kulisse und nimmt den kleinen Lianen-Akrobaten in Empfang. Schöner kann ein großer Auftritt für einen kleinen Künstler nicht enden. Nur noch einmal wird er dann im zweiten Akt auf einer kleinen Plattform einschweben, wenn der erwachsene Tarzan seine Identität begreift. Und ganz am Ende wird der kleine Tarzan neben dem großen Tarzan auf der großen Bühne im noch größeren Jubel der Menge baden. Ganz so, wie es sich für große kleine Künstler gehört.