Der elf Jahre alte Levin Mosel aus Kirchheim spielt in Udo Jürgens‘ Musical die Kinderhauptrolle
Levin war noch niemals in New York

Kirchheim. Levin hat sich das Meer in sein Zimmer geholt. Die Wände sind mit Surfbildern plakatiert. In der Ecke steht sein Board, im Schrank hängt der schwarze Neoprenanzug. Der elf Jahre alte Junge


ist vor ein paar Tagen mit seinen Eltern aus dem Nordspanien-Urlaub zurückgekehrt. Dort ist das Meer rau und die Wellen sind hoch. Heute Abend taucht er in eine andere Welt ein. Um Punkt 19.30 Uhr wird aus Levin Mosel Florian. Drei Stunden lang wird er im Stuttgarter Apollo-Theater immer wieder auf der Bühne stehen, schauspielern, tanzen, einmal sogar ein Solo singen. Nach der Show geht es zurück nach Kirchheim. Anschließend wird Levin todmüde ins Bett fallen und sich in seine New York-Bettwäsche kuscheln.

Levin war noch niemals in New York. Florian schon. Zwölf Mal ist Levin in diesem Jahr für „Ich war noch niemals in New York“ als Florian auf der Bühne gestanden. Die Handlung des Musicals, das auf Liedern des Sängers Udo Jürgens basiert, ist schnell erzählt: Maria und Otto langweilen sich im Altersheim zu Tode. Deshalb beschließt das Pärchen kurzerhand, auf einem Kreuzfahrtschiff nach New York zu reisen. Dort soll unter der Freiheitsstatue geheiratet werden. Den Kindern der beiden passen diese Pläne überhaupt nicht in den Kram. Marias Tochter, Lisa Wartberg, ist eine ehrgeizige Fernsehmoderatorin, die nur ihre Karriere im Kopf hat. Ottos Sohn, Axel Staudach, hat neben seinem Beruf als Modefotograf noch seinen zwölfjährigen Sohn Florian, dessen Wochenendbetreuung ihm eigentlich schon viel zu viel ist. Bei dem Versuch, die beiden Alten auf dem Kreuzfahrtschiff einzufangen, kommt es, wie es kommen muss: Axel und Lisa verlieben sich ineinander. Und Florian ist immer mit dabei.

Wenn Kinder auf der Bühne stehen, sind überehrgeizige Eltern oft nicht weit. Bei Levin war das anders. „Ich wusste überhaupt nicht, dass mein Sohn singen kann“, sagt seine Mutter Kathy Vogel und lacht. Auch Levin ahnte offenbar nicht, welches Talent in ihm schlummert. „In der Grundschule war ich im Chor. Aber da hat‘s keinen Spaß gemacht, weil man immer nur Mädchenlieder gesungen hat“, sagt er und rümpft die Nase.

Erst Bertram Schattel brachte Levins musikalische Fähigkeiten ans Licht. Auf der Suche nach Sängern für seinen Chor „Männersache“ hatte der engagierte Musikpädagoge im Ludwig-Uhland-Gymnasium einige Schüler vorsingen lassen. Levin überzeugte ihn.

Auch seine Rolle im Musical „Ich war noch niemals in New York“ hat Levin zumindest teilweise Betram Schattel zu verdanken. Der hatte davon gehört, dass in Stuttgart Florian-Darsteller gesucht wurden, und brachte Levin auf die Idee, zum Casting zu gehen. Levin fackelte nicht lange. Vor dem Casting schlotterten ihm aber dann doch die Knie. „Ich dachte, dass man allein reingeführt wird, wie im Fernsehen“, erinnert er sich. Da hatte er sich jedoch umsonst gesorgt: Die potenziellen Florian-Darsteller durften sich gruppenweise vorstellen und ein einstudiertes Lied vorsingen. Am Ende des mehrstufigen Auswahlverfahrens setzte sich Levin gegen viele andere Kandidaten durch. Nach monatelangen Trainings stand er im Frühjahr 2012 endlich zum ersten Mal auf der Bühne. Seitdem spielt er dort zwei bis drei Mal im Monat.

Levin ist natürlich nicht der einzige Florian-Darsteller – schließlich wird das Musical mehrmals in der Woche, mitunter sogar zweimal täglich, aufgeführt. Aktuell gibt es zwölf Florians. Die Fluktuation ist groß. Denn Florian ist nun mal ein zwölfjähriger Junge. „Wenn wir zu groß werden oder in den Stimmbruch kommen, dürfen wir nicht mehr mitmachen“, erzählt Levin. „Wachs‘ nicht so arg“, hat ihm sein Trainer deshalb vor dem Urlaub mit auf den Weg gegeben.

Mit der Betreuung ihres Sohns sind Levins Eltern sehr zufrieden. „Die Florian-Darsteller haben im Apollo-Theater hinter der Bühne ein eigenes Zimmer, in dem sie längere Pausen verbringen und sich ausruhen können“, erzählt Kathy Vogel. Während der Show wird Levin rund um die Uhr von Kindertrainer Thomas Hirschfeld und anderen Betreuern beaufsichtigt. „Es ist immer jemand beim Kind“, sagt die Mutter, die bisher jeden Auftritt ihres Kinds gesehen hat und vor der Show meist aufgeregter ist, als Levin selbst. Der Junge freut sich meistens nur auf die Show. Dass er „Mit 66 Jahren“ ganz allein singen muss, scheint ihn nicht zu schocken.

Am 14. Oktober werden im Stuttgarter Apollo-Theater zum letzten Mal die Udo Jürgens-Songs erklingen. Danach zieht das Musical weiter nach Oberhausen. Wer bei der sogenannten Dernière den Florian geben darf, entscheidet das Los. „Ich wäre so gern dabei“, sagt Levin und lässt in gespielter Verzweiflung seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Dass seine Zeit als Florian bald vorbei ist, macht ihn traurig.

Auch seiner Mutter wird das Musical fehlen – bei allem Stress und den vielen Stunden auf der Autobahn, die das Engagement ihres Sohns für sie bedeutet hat. „Wir als Eltern mussten uns schon mit einsetzen“, sagt sie. Auch Levin musste sich manchmal einschränken. „Ein paar Tage vor der Show durfte er zum Beispiel nicht ins Freibad, weil das Chlor nicht gut für die Stimme ist“, sagt sie. Sein Fußballtraining im Verein musste er ganz aufgeben. Das Positive hat jedoch überwogen – für Levin wie auch für die Eltern. „Wir haben eine ganz neue Welt kennengelernt“, schwärmt Kathy Vogel.

Weitere Rollen sind vorerst nicht in Sicht: Bei den anderen Stuttgarter Musicals spielen keine Kinder mit. „Wenn ich groß bin, würde ich schon gerne mal wieder bei einem Musical mitspielen“, sagt Levin. Bis dahin läuft das Singen und Schauspielern als Hobby weiter. Einmal die Woche hat Levin Gesangsunterricht bei Bertram Schattel. Seine Mutter versucht, ihn am Landestheater Esslingen für eine Schauspiel-AG anzumelden. Noch ist Levins Zeit als Florian allerdings noch nicht vorbei. Ein paar Auftritte liegen noch vor ihm. Am Abend wird er wieder vor Hunderten Menschen auf der Bühne stehen und am Ende sein Lieblingslied anstimmen: „Heute beginnt der Rest deines Lebens.“