Kirchheim. Auf die vermeintlich „sichere Bank“ der Interpretation eines bekannten literarischen Werks verließen sich 147 Kirchheimer Abiturienten, die gestern an der Deutsch-Prüfung teilnahmen: Sowohl an den beiden allgemeinbildenden Gymnasien (Schloss- und Ludwig-Uhland-Gymnasium) als auch am Wirtschaftsgymnasium der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule machte sich eine große Mehrheit der Schüler daran, einen Auszug aus dem zweiten Akt von Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ zu interpretieren. Vor allem geht es in dieser Szene um Camille Desmoulins und dessen Frau Lucile. Die beiden werden konfrontiert mit der resignierenden Hauptfigur Danton sowie mit drohenden Hinrichtungen – auch dem drohenden eigenen Tod unter der Guillotine – in der Folge von Robespierres Schreckensherrschaft.
Ausgehend von dieser Textstelle und ihrer Interpretation, gehörte es zu den Aufgaben der Aufsatzschreiber, die Bedeutung Luciles für Camille zu untersuchen. Weil es sich dabei um eine „vergleichende Betrachtung“ handelte, war in die Untersuchung mit einzubeziehen, welche Bedeutung Sabeth für die Hauptfigur in Max Frischs Roman „Homo faber“ hat. Und damit nicht genug, ging es auch noch um die Bedeutung der Titelfigur „Agnes“ für den Ich-Erzähler in dem Roman des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm.
Alle drei Werke gehören zu den aktuellen Sternchenthemen für das Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg. Deshalb sind auch alle drei Werke in den vergangenen beiden Schuljahren intensiv im Deutsch-Unterricht behandelt worden. Beim vierten Sternchenthema ist das naturgemäß ein bisschen anders: Es heißt „Deutsche Liebeslyrik vom Barock bis zur Gegenwart“ und ist deswegen weit umfangreicher als ein einzelnes abgeschlossenes Werk. Die Gedichtinterpretation lässt sich also weit weniger gut vorbereiten.
Trotzdem haben sich 31 Abiturienten an allen vier Kirchheimer Gymnasien – in diesem Fall kommt noch das Technische Gymnasium an der Max-Eyth-Schule hinzu, wo das erste Thema keine Anhänger gefunden hatte – daran gewagt, das Sonett „Zur Zeit seiner Verstoßung“ des Barock-Dichters Paul Fleming mit Heinrich Heines Gedicht „Ich wollte bei dir weilen“ zu vergleichen. In beiden Fällen ist das lyrische Ich ein unglücklicher Liebhaber, den seine Geliebte verlassen hat.
Bei Fleming bricht im abschließenden Terzett-Vers alles zusammen: „Nun bin ich ohne sie; nun bin ich ohne mich“, lamentiert der Liebhaber, der mit der Geliebten auch sich selbst verloren zu haben glaubt. In den beiden Auftakt-Quartetten wird der Liebende allerdings mit einem Kaufmann verglichen, der sein Gut nur einem einzigen Schiff anvertraut. Scheitert dieses Schiff, ist er ganz und gar verloren. Unausgesprochen, könnte da natürlich die Option bleiben, als Kaufmann wie als Liebender mehrere Eisen im Feuer zu halten.
Das ist bei Fleming wohl eher nicht so gemeint, dafür aber bei Heinrich Heine. In seinem typischen lapidar-schnodderigen Tonfall lässt Heine den Liebhaber zwar seinen gesteigerten „Liebesverdruß“ beklagen. Aber der Ärger kulminiert lediglich in der Tatsache, dass ihm der „Abschiedskuß“ verweigert wurde. Das Ende vom Lied ist deswegen auch allenfalls ein wenig trotzig, aber keinesfalls lebensbedrohlich: „Glaub nicht, daß ich mich erschieße, / Wie schlimm auch die Sachen stehn!“ Dann folgt die Pointe: „Das alles, meine Süße, / Ist mir schon einmal geschehn.“ Bei Heine also lässt sich vermuten, dass das lyrische Ich über diesen wiederholten Fall des Verlassenwerdens leichter hinwegkommt und sich aus Erfahrung alsbald der nächsten Liebelei widmen kann.
Schwieriger als die Gedichtinterpretation war dieses Mal wahrscheinlich die Interpretation eines Prosa-Texts: Immerhin handelte es sich bei dem Text um eine Erzählung Franz Kafkas mit dem Titel „Ein altes Blatt“. Bezüge lassen sich sicher manche herstellen – auch aktuelle –, angesichts der bewaffneten Nomaden aus dem Norden, die sich in der Kaiserstadt eingenistet haben, wo sie die Bevölkerung als Besatzungsmacht drangsalieren. Wer nun aber letztlich „die Rettung des Vaterlandes“ übernimmt, und gegen wen, das bleibt bis zum Schluss offen. Aber immerhin haben 23 Kirchheimer Abiturienten sich gestern diesen offenen Fragen gestellt.
Geteilt waren dieses Jahr die beruflichen und die allgemeinbildenden Gymnasien erst bei den beiden abschließenden Aufgabentypen, die noch zur Auswahl standen: Essay und Textinterpretation. Der Essay – erstmals an den allgemeinbildenden Gymnasien im Angebot – hat dort ganz gut eingeschlagen: 55 Kirchheimer Gymnasiasten versuchten sich an dem Versuch zum Thema „Sehnsucht – über die Bedeutung eines Gefühls“. An den beruflichen Gymnasien, wo die Essays schon seit einigen Jahren erprobt sind, sind gestern insgesamt 17 Essays zu dem mehrdeutigen und deshalb vielschichtigen Thema „Macht Musik“ entstanden.
Bei der Texterörterung ging es um journalistische Texte: 29 „allgemeinbildende“ Abituraufsätze beschäftigten sich gestern in Kirchheim mit der „Diktatur der Fürsorge“ und der damit verbundenen Maxime „Jeder hat auch die Freiheit, sich selbst zu schaden“. Zehn „berufliche“ Texterörterungen gab es dagegen zu einem passenden beruflichen Thema: Es ging um die Frage, inwieweit so etwas wie Spaß und Selbstverwirklichung im Arbeitsleben möglich ist.
Zur Selbstverwirklichung an der Schule bleibt den Abiturienten jetzt nicht mehr viel Zeit: Die schriftlichen Prüfungen enden in acht Tagen, und mit den mündlichen Prüfungen endet auch die gesamte Schulzeit Ende Mai – zumindest an den beiden allgemeinbildenden Gymnasien.