Fussball

Ab durch die Mitte

Fußball TG Kirchheim Elf Zugänge und 13 Abgänge – die nicht ganz freiwillige Zäsur zwingt den frischgebackenen Aufsteiger in die Fußball-Kreisliga A und seine beiden Abteilungsleiter zu einer Neuausrichtung. Von Helge Waider

Die Vorbereitung auf die neue Saison läuft bei der TG auf Hochtouren. Foto: Markus Brändli
Die Vorbereitung auf die neue Saison läuft bei der TG auf Hochtouren. Foto: Markus Brändli

Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern - was bereits Aristoteles vor weit über 2 000 Jahren wusste, können Florian Kretzschmar und Philip Kienzle heute blind unterschreiben. Beide sind Freunde seit Kindertagen und führen die rund 60 Köpfe starke Fußballabteilung der Turngemeinde Kirchheim seit 2018 zusammen als Doppelspitze. Sanitärfachmann Kretzsch­mar und Bäcker Kienzle ergänzen sich perfekt. Während der eine (Kienzle) die Administration regelt, ist der andere (Kretzschmar) für die Organisation zuständig.

Beides war in den vergangenen Wochen wichtig. Denn nach der Vielzahl an Abgängen (siehe Infokasten) gab es im Verein eine Zäsur - ungewöhnlich für ein Team, das soeben, wenn auch „nur“ über die Quotientenregel, in die Kreisliga A aufgestiegen ist.

Die Hintergründe des „Ausverkaufs“ bleiben unklar. Das Unheil begann aber wohl bereits am Ende der Saison 2018/19, als die Turngemeinde das Relegationsfinale um den Aufstieg in die Kreisliga A gegen die TSV Oberensingen II verlor. Und es gipfelte in dem im Februar angekündigten Wechsel von Spielertrainer Tim Lämmle zum SV Nabern. „Danach“, ist sich der seinerzeit sehr enttäuschte Florian Kretzschmar sicher, „ging ein Bruch durch die Mannschaft, und es war eine gewisse Unzufriedenheit spürbar.“

In der Folgezeit galt für die TG-Doppelspitze, ganz getreu dem Motto „Jetzt erst recht“, zum einen, die Wechselregularien des Württembergischen Fußballverbands (WFV) zu beachten und die Ausbildungs- und Ablösebeträge zu verhandeln und zu überwachen. Zum anderen war aber auch die Verpflichtung eines neuen Trainergespanns und neuer Spieler notwendig.

Trainer-Duo mit Erfahrung

In Sachen Coach wurde das Abteilungsleiterduo schnell in den eigenen Reihen fündig. Nachdem die Reservemannschaft mangels spielerischer Masse abgemeldet worden war, lag es nahe, mit Mehmet Akkoyuncu (39) deren Trainer für die „Erste“ zu verpflichten. Der Kirchheimer Gastronom, den alle nur „Memo“ rufen und der nebenbei auch noch Präsident der Europäisch-Türkischen Fußball-Föderation (ATFF) ist, hatte einst als Sponsor bei der Turngemeinde angefangen. Er „verliebte“ sich in den Verein und begann deshalb auch als Coach mitzuarbeiten.

Ihm zur Seite gestellt wurde mit Israfil Kilic ein erfahrener Kicker, der bis hinauf in die Landesliga gespielt hat und zuletzt bei Türk­spor Nürtingen 73 im Einsatz war. Der gebürtige Kirchheimer mit türkischen Wurzeln und breitem schwäbischen Dialekt wird auch mit mittlerweile 41 Jahren als mitspielender Co-Trainer seine Aufgabe wahrnehmen.

Zusammen haben sowohl das Funktionärs- als auch das Trainergespann einen Zweijahresplan entwickelt, um das schlingernde Fußballschiff der Turngemeinde wieder in ein ruhiges Fahrwasser zu bringen und am Ende der Saison tabellarisch im gesicherten Mittelfeld zu stehen. Für dieses Unterfangen verpflichteten die Kirchheimer nicht weniger als elf neue Akteure. Florian Kretzschmar zollt den Coaches Respekt: „Die haben gefühlt zwei Wochen am Stück telefoniert, um Spieler zu uns zu lotsen.“

Auch die Verantwortlichkeiten haben sich an der Jesinger Allee mittlerweile verändert. Hatten Tim Lämmle und sein Co-Trainer Andreas Schmidt innerhalb der Abteilung nahezu autark agiert, ist die neue Struktur von Offenheit geprägt. „Trainer, Mannschaft, der neue Spielleiter Fabian Maier und die Funktionäre stehen als Kollektiv im Vordergrund, und es gibt klare Absprachen“, weiß Philip Kienzle.

„Yeti“ bleibt am Mikro

Viel Bewegung scheint im Verein zu sein. Da tut es gut, dass ein paar alte Zöpfe nicht abgeschnitten wurden. Greenkeeper und Platzsprecher Claus „Yeti“ Stepan wird auch in der neuen Saison an alter Stelle tätig sein und die Zuschauer bei den Heimspielen fachkundig informieren.

Co-Trainer Israfil Kilic, der die Mannschaft aus einer gesicherten Abwehr heraus agieren lassen will, hofft in der Hinrunde auf das Überraschungsmoment: „Keiner kennt uns in der Konstellation, und keiner hat uns auf dem Zettel.“ Die „neue“ Turngemeinde scheint sich in der Außenseiterrolle pudelwohl zu fühlen.

Multikulturelle Runderneuerung mit türkischem Zweitligaspieler

Ethnisch gesehen hat die Turngemeinde in den vergangenen Jahren einige „Phasen“ durchgemacht. Mal setzte sich der Großteil des Teams aus Spielern der Balkananrainer zusammen, mal war Italienisch, ein Jahr später Türkisch die meistgehörte Sprache auf dem Platz. Es folgten die durch die Flüchtlingshilfeaktion gesprochenen afrikanischen Dialekte und Sprachen.

Ab nächster Saison herrscht multikulti bei der Turngemeinde - und eine einheitliche Sprache, die sowohl auf dem Platz als auch in der WhatsApp-Gruppe gesprochen und geschrieben wird: Deutsch. Co-Trainer Israfil Kilic: „Deutsch können alle unsere Spieler und ist deshalb die offizielle Sprache. Wer sich widersetzt, muss einen Strafbetrag in die Mannschaftskasse zahlen.“ Es ist eine Aktion, die den Abteilungsleitern gefällt. Florian Kretzschmar: „So haben auch wir Funktionäre die Chance, alles mitzubekommen, was sich auf dem Platz und in der Kabine abspielt.“

Vor Überraschungen schützt freilich auch die einheitliche Sprache nicht. Zum Ablauf der abgebrochenen Runde wurden Florian Kretzschmar und Philip Kienzle von der hohen Anzahl abwanderungswilliger Akteure komplett überrascht. „Außer Co-Trainer Andreas Schmidt und den fünf Spielern, die zum SC Uhingen wechselten, hat uns keiner der 13 Abgänger informiert, dass er den Verein verlassen möchte.“

Tatsächlich demissionierten mit Benjamin Baar, Finn Härtel, Timo Holzschuh, Max Renn, Christian Seifermann (alle zum SC Uhingen), Veli Boz, Michael Hübsch, Robin Mann, Tony Michel, Andreas Schmidt (alle zum TSV Wendlingen), Tim Lämmle (SV Nabern), Robert Lukowski und Joachim Weber (beide zu den SF Dettingen) nicht weniger als 13 Akteure, die in der vergangenen Saison noch im TG-Dress aufliefen.

Dagegen stehen nicht weniger als elf Neuzugänge: Israfil Kilic (Türkspor Nürtingen 73), Can Aksan und Yüksel Colakoglu (beide TFC Köngen), Furkan Aydemir (AC Catania), Erik Becker, Johannes Focht und Kris Schlickowey (alle TSV Ötlingen), Muhammed Gülay (TSV Oberboihingen) und Tom Philipp (TV Neidlingen) sowie der reaktivierte Habib Aydin.

Abgerundet wird der Kader durch Emre Artan, der zuletzt für Istanbul Belediyesi Spor in der zweiten türkischen Liga am Ball war und in Sachen Leistung damit quasi der große Unbekannte auf der TG-Rechnung ist. wai