Über die Deutungshoheit der Zahlen zum Thema Gewalt gegen Fußball-Schiedsrichter wird mit jedem neuen Fall neu diskutiert. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Spiele sei die Zahl verschwindend gering, argumentieren die Verbände, nicht ohne gleichzeitig zu betonen, dass jeder Fall einer zu viel sei. Untätigkeit der verantwortlichen Instanzen lautet wiederum ein Vorwurf der Vereine, die sich innerhalb des föderal organisierten Systems vom DFB allein gelassen fühlen.
Fakt ist: Vergangene Saison ist jeder 19. Fußballschiedsrichter in Deutschland bei der Ausübung seines Ehrenamts attackiert worden. Im Bezirk Neckar/Fils liegt der letzte Fall gerade mal zwei Monate zurück, als bei einem Spiel in Neckartenzlingen der Unparteiische in Kampfsportmanier umgetreten wurde, nachdem er einem Spieler die Rote Karte gezeigt hatte.
Dass es sich dabei um eine Partie der Kreisliga B handelte, sei kein Zufall, wie Dr. Thaya Vester feststellt. Die 37-Jährige von der Uni Tübingen hat die deutschlandweit bislang einzige Langzeitstudie zum „Sicherheitsgefühl und zur Opferwerdung von Unparteiischen im Amateurfußball“ verfasst. In einem Abstand von fünf Jahren hat Vester 2240 Schiedsrichter in ganz Württemberg befragt und die Zahlen verglichen. Dabei stellt die Soziologin und Kriminoligin unter anderem fest, dass viele Fälle an Beleidigungen, Diskriminierungen und Angriffen in den Kreisligen auftreten. Auffallend sei außerdem, dass die Täter häufig Einwechselspieler sind. Ein Zusammenhang mit der Nationalität sei hingegen schwer herzustellen, da nur aufgrund des Namens nicht automatisch auf die Herkunft geschlossen werden könne. „Die Frage zu diesem Themenbereich war auch negativ formuliert“, betont Thaya Vester. Außerdem hätten viele der befragten Schiedsrichter zu diesem Thema keine Angaben gemacht, was eine selektive Wahrnehmung befeuert.
Die Mehrheit fühlt sich sicher
Im Dunstkreis gefühlter Wahrheiten kommt die Wissenschaftlerin dennoch zu einem überraschenden Ergebnis: 70,6 Prozent der Schiedsrichter gaben in der aktuellen Befragung an, sich auf dem Platz fast immer sicher zu fühlen. „Dass Unsicherheitsgefühle bei einem Unparteiischen überwiegen, stellt damit die absolute Ausnahme dar“, sagt Vester, die bei der ersten Befragung vor fünf Jahren mit 72,2 Prozent zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen war.
Die relativ gleichbleibenden Zahlen überraschen, da der württembergische Fußballverband in Sachen Gewaltprävention eigetnlich als Musterknabe unter den 26 Verbänden des DFB gilt. Obwohl der WFV seit der ersten Erhebung von Vester vor fünf Jahren an vielen Aktionen teilgenommen oder selbst entwickelt hat, stellt die Wissenschaftlerin fest, „dass dies noch nicht dazu geführt hat, dass sich das persönliche Sicherheitsgefühl der Schiedsrichter verbessert.“ Im Umkehrschluss die Bestrebungen als unwirksam zu bezeichen, sei jedoch falsch: „Bei den wenigen Ergebnissen im Langzeitvergleich, die überhaupt nennenswerte Unterschiede zu Tage förderten, ließ sich ein positiver Trend feststellen“, verweist Vester unter anderem auf die enorm gestiegene Zustimmung zum verpflichtenden Einsatz von Ordnungskräften.
Dennoch kommt die Wissenschaftlerin zu dem Schluss, dass der oganisierte Fußball eine andere Herangehensweise wählen muss: Die Frage sollte nicht lauten, was Verbände unternehmen können, um das Sicherheitsgefühl der Schiedsrichter zu verbessern, sondern was unternommen werden muss, um das bereits vorhandene Sicherheitsgefühl nicht zu verringern.
Anworten kommen mittlerweile nicht nur aus den eigenen Reihen. So will der Sportdirektor des Deutschen Handballbundes, Axel Kromer, unlängst erkannt haben, dass der Fußball ein tiefgehendes Diziplinproblem hat. „Ich würde eine Null-Toleranz-Politik bezüglich aller emotionalen Gesten und Aktionen von Spielern und Trainern gegen den Schiedsrichter fahren“, frodert Kromer.
„Symbolik steht im Vordergrund“
Was einleuchtend klingt, lässt sich nach Expertenmeinung jedoch nur schwer auf den Fußball übertragen. Ansgar Thiel, Doktorvater von Thaya Vester und Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Uni Tübingen, hält die Aufklärungsquote für entscheidend. „Es muss etwas passieren, wenn man erwischt wird. Auch Maximalstrafen reduzieren kein Fehlverhalten, dies zeigt die Forschung ganz genau. Die Symbolik steht im Vordergrund, denn wenn man mit einem aufgedeckten Fall zeigt, dass man damit eben nicht durchkommt, schreckt das ab.“
Ob dies im jüngsten Fall aus dem Bezirk Neckar/Fils zutrifft, wird sich frühestens in zweieinhalb Jahren feststellen lassen: Der Neckartenzlinger Spieler, der den Schiedsrichter niedergestreckt hat, ist bis März 2022 gesperrt worden. Parallel dazu läuft ein Antrag auf Ausschluss aus dem Verband - wen das nicht abschreckt, der hat im Fußball nichts verloren.
In einer früheren Version war Stefan Kromer fälschlicherweise als Präsident des Deutschen Handballbundes genannt worden.