Michael Schlecht war gestern Vormittag nicht nur schlecht auf das Thema zu sprechen, er war auch schlecht zu erreichen. Lenningens Bürgermeister war schwer beschäftigt. Mit dem kleinen Jura-Studium, falls es so etwas gäbe, oder mit der Schnellbleiche in Sachen Infektionsschutzgesetz. Was muss? Was darf? Und vor allem: wer? Die am Donnerstag vor laufenden Fernsehkameras ausgesprochene Empfehlung der Landkreisverwaltung, wegen der Pandemielage auf Zuschauer in Sporthallen zu verzichten, bringt die Rathäuser in Erklärungsnot.
Am Samstag und Sonntag ist erster Heimspieltag der Handballer in der Lenninger Sporthalle. Ein Termin, auf den die Fans schon lange hinfiebern. Sechs Mannschaften der Spielgemeinschaft aus Owen und Lenningen genießen zum Saisonstart Heimrecht. Männer und Frauen sind aufgestiegen und erwarten mit Spannung die ersten Gegner in der Landesliga. Der Verein hat viel Zeit in ein bereits genehmigtes Hygienekonzept gesteckt, das zumindest einen Teil der Heimspielatmosphäre auf den Rängen hätte retten sollen. Seit gestern 12 Uhr steht fest: Die Fans müssen draußen bleiben. So wie der HSG geht es vielen Sportvereinen im Kreisgebiet, denn der Landkreis Esslingen gilt seit Mittwochabend als Risikogebiet.
Michael Schlecht ist die Entscheidung nicht leicht gefallen - aus zweierlei Gründen. Die Rechtslage ist unklar. „Wir Gemeinden haben keine Juristen im Haus“, sagt der Bürgermeister, der bis gestern nicht wusste, ob er Zuschauern den Zutritt zur Halle aufgrund des Infektionsgeschehens so einfach verweigern kann. Zur Mittagszeit war diese Frage zwar noch immer nicht geklärt. Eine Entscheidung fiel dennoch. Als Verwaltungschef machte Schlecht kurzerhand von seinem Hausrecht Gebrauch. Schweren Herzens, wie er betont. „Mir tut es für Sportler und Zuschauer wirklich leid“, sagt er. „Aber wir dürfen den Verein mit dieser Entscheidung jetzt nicht im Regen stehen lassen.“
Kirchheim folgt dem Landkreis
Andere tun sich da leichter. Die Stadt Kirchheim zieht für ihre Sportstätten nur in einem Punkt eine klare Linie: Bei allen Veranstaltungen im Freien gilt für Zuschauer generelle Maskenpflicht, also auch auf Fußballplätzen. Was Zuschauer in den Hallen betrifft, schließe man sich den Empfehlungen des Landkreises an, teilt der Sprecher der Stadt, Robert Berndt, mit. Im Klartext: In Kirchheimer Hallen gibt es kein Zuschauerverbot, aber den dringenden Rat an die Vereine, auf Publikum zu verzichten. Der wachsweiche Kurs verliert dadurch an Brisanz, weil die Verbandsliga-Handballer des VfL am ersten Spieltag ohnehin hätten auswärts antreten sollen. Dass das Spiel gegen den TV Gerhausen abgesagt wurde, liegt ausnahmsweise nicht an Corona, sondern an einem Wasserschaden in der dortigen Halle.
Alleingelassen fühlen sich viele trotzdem. Auch an verantwortlicher Stelle im Handballbezirk, wo Erinnerungen ans Frühjahr wach werden, als der Spielplan unaufhaltsam zu bröckeln begann. „Die Ereignisse überschlagen sich“, berichtet Bezirksspielleiter Roland Dotschkal. „Uns brennt hier im wahrsten Sinne der Kittel.“ Für die Organisatoren ist der Ausschluss der Zuschauer längst zur Nebensache geworden. Sie und ihr verlängerter Arm in den Vereinen haben ganz andere Sorgen. „Die Politik sagt nicht Ja und nicht Nein und spricht nur Empfehlungen aus“, sagt Dotschkal. „Derweil erhalten die Vereine böse Mails bis hin zu Androhungen.“ Von Fans, aber auch von Eltern.
Spielplan als Flickenteppich
Schon jetzt ist klar: Der Spielplan nach dem Auftakt wird einem Flickenteppich gleichen. Immer mehr Spiele müssen abgesagt werden, weil Mannschaften das Risiko scheuen oder Spieler unter Quarantäne stehen. Bisher sind vor allem der Jugendbereich und die unteren Spielklassen betroffen. Nicht nur im Kreis Esslingen, sondern auch in Nachbarkreisen wie Reutlingen. Im Ermstal, wo handballerisch besonders erfolgreiche Nachwuchsarbeit betrieben wird, sind sechs Schulen nach Infektionsfällen geschlossen. Für viele Eltern Grund genug, ihre Kinder nicht zum Handball in die Halle zu schicken.
Die HSG Leinfelden-Echterdingen verzichtet aufs Duell gegen die „Dritte“ des VfL Kirchheim in der Kreisliga C - aus Sorge um die eigene Gesundheit. Das Infektionsrisiko zu groß ist auch den Spielern des TV Altenstadt, die gestern ihre Verbandsliga-Partie gegen den TSV Denkendorf kurzfristig abgesagt haben. Was mit einseitig abgesagten Spielen geschieht, weiß keiner. Über eine Spielwertung muss erst entschieden werden. Am heutigen Samstag um 14 Uhr treffen sich die Bezirksvertreter zu einer Krisensitzung noch bevor der erste Spieltag richtig begonnen hat.
Wie lange das Ganze einen Sinn ergibt, vermag auch Michael Roll, der oberste Spieltechniker im HVW nicht zu sagen. Im Moment sei die Situation beherrschbar. „Wir sind keine Corona-Polizei“, sagt er. Der Verband könne nur Handreichungen geben und Empfehlungen aussprechen. Vor allem von Letzteren hat man in den Vereinen inzwischen genug.
Kommentar: Gar nichts gelernt?
Zumindest, was den Sportbetrieb betrifft, muss die Frage gestattet sein: Hat man denn aus dem Frühjahr gar nichts gelernt? Dass die Infektionszahlen im Herbst steigen würden, war zu erwarten. Dass dies einhergehen würde mit dem Start des Spielbetriebs in den Hallen ebenso. Doch kaum steht, wie im Handball, der erste Spieltag vor der Tür, regiert Ratlosigkeit, wird über Zuständigkeiten und Rechtsgrundlagen gerätselt, kultiviert man in Verbandsbüros, Behörden und Rathäusern das gepflegte Verwirrspiel.
Empfehlungen statt klarer Worte, daraus spricht das verzweifelte Bemühen der Politik, Wort zu halten. Ein zweiter Lockdown – so weit soll es nicht kommen. Doch was als Handeln mit Augenmaß verstanden werden soll, bringt die Verantwortlichen in Vereinen wie schon im März in die Bredouille. Wo klare Vorgaben fehlen, sind sie es, die Entscheidungen treffen und nach außen vertreten müssen. Meist ohne rechtliche Grundlage.
Dabei ist die Frage, ob mit oder ohne Zuschauer, längst nicht die einzige, die Vereine im Moment bewegt. Was ist, wenn Spieler Eigenverantwortung über den sportlichen Ehrgeiz stellen, wenn Eltern ihre Kinder einfach zu Hause lassen oder Mannschaften sich weigern, einen Gegner zu empfangen, bei dem der Verdacht mitreist? Was geschieht mit Spielen, die ausgefallen sind aus Gründen, die in keinem Regelwerk auftauchen, und wer haftet für finanzielle Schäden?
Mehr Frust war wohl selten in Vereinen, die auch ohne Virus genügend Gründe fänden, sich um die Zukunft zu sorgen. Abteilungsleiter, Jugendtrainer, Schriftführer oder Schatzmeister – Sie alle haben kein gemeinsames Rezept gegen die Krise, aber eine klare Forderung an Politik und Verbände: Sagt endlich, was Sache ist.