Lokalsport

Abschied auf Raten

Tobias Unger will spätestens im Herbst seine Leichtathletikkarriere beenden

Stollenschuhe statt Spikes, Rasen statt Tartanbahn, Fußball statt Leichtathletik: Tobias Unger gewöhnt sich immer besser an seinen Job als Athletiktrainer des Bundesliganachwuchses beim VfB Stuttgart. Seine Karriere als Sprinter will der 34-jährige Kirchheimer trotzdem erst nach der Freiluftsaison im September beenden. „Ich möchte noch einmal angreifen“, betont er – wann, wo und vor allem wie, weiß er dabei selbst noch nicht.

„Ich will langfristig beim VfB arbeiten“: Tobias Unger findet immer größeren Gefallen an seinem Job im Fußball-Business. Foto: J
„Ich will langfristig beim VfB arbeiten“: Tobias Unger findet immer größeren Gefallen an seinem Job im Fußball-Business. Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Wer mit Rohdiamanten handelt, bekommt schnell mal leuchtende Augen. Tobias Unger bildet da keine Ausnahme. Wenn der 34-Jährige über seinen Job als Athletiktrainer der VfB-Nachwuchsfußballer spricht, schwingt die Begeisterung hörbar mit. „Wenn von denen eines Tages einer Bundesligaprofi wird und ich habe auch nur ein Prozent beigetragen, ist das schon klasse“, fasst er die Faszination seiner Tätigkeit beim VfB zusammen.

Seit Juli ist der dreimalige Olympiateilnehmer am Cannstatter Wasen für vier Nachwuchsteams mitverantwortlich. Unger betreut die U15, U16, U17 und U19 des VfB, sorgt bis zu sechs Mal die Woche für Schnelligkeit und Spritzigkeit sowie Kraft und Ausdauer der potenziellen Stars von morgen. „Die eine oder andere Granate ist schon dabei“, lobt er die ungeschliffenen Rohlinge, die seit Anfang Januar wieder unter seiner Knute für die Rückrunde in ihren jeweiligen Ligen schwitzen.

Diagonalsprints, Ausdauerläufe, Sprungübungen, Krafttraining – Unger trägt sein Scherflein zum guten Ruf der VfB-Nachwuchsarbeit bei, tauscht sich dabei auch mit den Weichenstellern im Verein aus. Bundesligacoach Thomas Schneider, Manager Fredi Bobic oder Chefscout Ralf Becker klopfen regelmäßig beim zigfachen Deutschen Sprint-Meister an, um sich über die Fortschritte der VfB-Youngster in Sachen Athletik zu informieren. „Bis jetzt habe ich viel positives Feedback bekommen, auch von den Spielern“, freut sich Unger, der sich momentan noch in der „Lernphase befindet, was den Fußball angeht“. Rat holt er sich dabei oft von einem Quasi-Nachbar: VfB-A-Jugend-Co-Trainer Bippo Forzano wohnt wie Unger bekanntlich ebenfalls in Kirchheim. „Wir quatschen oft, von ihm kann man viel lernen“, sagt Unger, der sich große Hoffnungen macht, dass sein bis Juni befristeter Vertrag verlängert wird. „Ich will langfristig beim VfB arbeiten, das ist genau mein Ding.“

Man merkt: So redet keiner, der noch die ganz großen Ambitionen für seine angestammte Passion hegt, zumal die Zeit für den eigenen Leistungsschliff mit zunehmender beruflicher Belastung immer knapper wird. „In Kirchheim trainiere ich gar nicht mehr“, bekennt Unger, „wenn, dann in Stuttgart.“ Trotzdem hat er die Freiluftsaison noch nicht abgehakt, plant, über Ostern ins Trainingslager nach Valencia zu fahren, um danach ein letztes Mal auf die Sprintbühne zurückzukehren. „Ich will nichts künstlich rauszögern, aber wenn ich meine Laufbahn beende, dann erst nach der Saison im Herbst.“

Davor will er auch das Vertrauen zurückzahlen, das der Deutsche Leichtathletikverband in ihn setzt. Der DLV hat Unger („Ich will noch einmal angreifen“), obwohl sein letzter Wettkampf verletzungsbedingt bereits fast eineinhalb Jahre zurückliegt, in den B-Kader über 200 Meter eingestuft. Dort tummeln sich noch sieben andere Sprinter, denen der Verband Perspektive für eine erfolgreiche Teilnahme an den Europameisterschaften einräumt. Normalerweise müssen für die Kaderzugehörigkeit bestimmte Richtwerte erfüllt sein. Doch hat der DLV, wie bereits in anderen Fällen zuvor, bei Unger eine Ausnahme gemacht.

Nichtsdestotrotz nimmt der Deutsche Rekordhalter über 200 Meter (20,20 Sekunden) mit jedem Tag im Fußball-Business mehr und mehr Abschied von der Leichtathletik, die über 20 Jahre sein Leben diktiert und ihn zu einem der erfolgreichsten deutschen Sprinter aller Zeiten gemacht hat. Dass er dabei trotz unzähliger Erfolge auf nationaler und internationaler Bühne nie reich geworden ist, macht seinen schleichenden Rückzug von der Tartanbahn auch in den Augen seines Trainers plausibel. „Tobias war über seinen Sport nie abgesichert. Es rentiert sich nicht, die eigene Zukunft dafür aufs Spiel zu setzen“, sagt Micky Corucle, bekennender Kritiker des Fördersystems im deutschen Sport.

Da mutet es fast schon ironisch an, dass sein erfolgreichster Schützling nun ausgerechnet in der Sportart beruflich Fuß gefasst hat, die über die mit Abstand meisten finanziellen Mittel verfügt. Beispiel VfB: Ungers Arbeitgeber baut für seine Nachwuchskicker momentan ein neues, 2 700 Quadratmeter großes Jugendzentrum für zehn Millionen Euro. Die sind zu zwar zu 70 Prozent durch Bankdarlehen finanziert, doch macht allein die Summe deutlich, wie hoch der Stellenwert des Fußballs in der Landeshauptstadt ist und wie groß die Hoffnungen sind, dass der Verein dadurch konkurrenzfähig bleibt.

„Wenn das Zentrum im Oktober fertig ist, können wir noch besser arbeiten“, glaubt auch Tobias Unger, der vor dem Hintergrund des Leistungsdrucks, der auf seinen Spielern lastet, in der täglichen Arbeit großen Wert auf die richtige Atmosphäre legt. Eine gesunde Mischung aus Spaß und harter Arbeit würde seinen Trainingseinheiten kennzeichnen, verrät er. Für den Spaß sorgt der Kirchheimer dabei oft genug selbst. „Wenn wir auf dem Rasen Übungen mit Ball machen, tunneln mich die Jungs immer und lachen sich dann kaputt.“ Mit Humor gelingt der Abschied von der Leichtathletik besser, auch wenn er nur auf Raten ist.