Lokalsport

„Beim Rollstuhltanz bin ich der Mann“

Christine May aus Kirchheim und der Ludwigsburger Michael Zeltwanger investieren viel Freizeit und Leidenschaft in ihr Hobby

Sie tanzen zusammen und für ihr Leben gern, doch die klassische Rollenverteilung greift bei ihnen nicht: Sie führt – er lässt sich führen. Seit Februar 2014 sind die Kirchheimerin Christine May und der Ludwigsburger Michael Zeltwanger ein ständiges Paar im Rollstuhltanz. Als Mitglieder einer Formationsgruppe haben sie auch öffentliche Auftritte.

Immer wieder freitags: Christine May und Michael Zeltwanger beim Training.Foto:  Martina May-Deger
Immer wieder freitags: Christine May und Michael Zeltwanger beim Training.Foto: Martina May-Deger

Ludwigsburg/Kirchheim. Etwa 350 in nationalen Vereinen organisierte Rollstuhltänzer gibt es laut dem Deutschen Rollstuhlsport-Verband (DRS) derzeit. Zwei davon sind Christine May, die sogenannte Fußgängerin ist, und Michael Zeltwanger, Rollstuhlfahrer seit sechs Jahren aufgrund einer Multiple-Sklerose-Erkrankung. Weder ursprüngliche Schock-Diagnose (2004) noch die anhaltende Unkenntnis über den zu erwartenden Krankheitsverlauf noch seine Ehescheidung 2006 warfen den Positivdenker psychisch aus der Bahn. Dazu kommt, dass er von vielen Seiten Halt bekommt: von seinem Bankjob als Kreditsachbearbeiter, von den Rehamaßnahmen, von der künftigen behindertengerechten Wohnung, die Lebensqualität garantiert. Und – von Christine May.

Wann immer das Kirchheimer/Ludwigsburger Rollstuhl-Tanzpaar beim 1. TC Ludwigsburg zusammen Samba, Wiener Walzer, Jive oder Discofox tanzt, muss sie, die 51-jährige Medienberaterin beim Teckboten, ihn, dem 47-jährigen Finanzfachmann mit Teilzeitjob, zeigen, wo es langgeht – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hat die Führungsrolle, bestimmt Tanzwege, Timing und Ablauf. „Beim Rollstuhltanz bin ich gewissermaßen der Mann“, sagt sie. Michael Zeltwanger ist dankbar für diese Rollenverteilung. Für seinen Sport eine passende Partnerin zu finden, war kein Kinderspiel – neben den tänzerischen Voraussetzungen muss schließlich auch die Chemie stimmen. Es passt bei beiden.

Dass Christine May ausgerechnet Rollstuhltanzen zu ihrem wichtigsten Hobby machte, war einer Notlage geschuldet: Der Tanzsport-Enthusiastin fehlte der richtige Tanzpartner. In den lokalen Clubs rund um die Teck hatte sie den passenden Menschen ihrer Wahl nicht gefunden, weil es nichts Passendes gab. „Manche potenziellen Tanzpartner waren nicht auf demselben Leistungslevel, manche unzuverlässig und manche etwas aufdringlich“, beschreibt sie ihre persönlichen Erfahrungen. Doch weil sie für ihr Leben gerne tanzt(e) und nie darauf verzichten wollte, kam der Alternativ-Tipp ihrer Schwester, einer erfahrenen Rollstuhltänzerin, gerade recht. Neugierig und ziemlich kurz entschlossen setzte sich Christine May also ins Auto, fuhr ins Ludwigsburger Tanzsportzentrum und erlebte dort zum ersten Mal, wie sogenannte Fußgänger mit Rollstuhlfahrern unter professioneller Anleitung gemeinsam ihre Parkettrunden drehten. Am Inklusions-Kurs des TC Ludwigsburg für Behinderte und Nichtbehinderte fand die Kirchheimerin von Anfang an Gefallen. Schnell lernte sie mit Michael Zeltwanger auch den passenden Tanzpartner kennen. Ihre Suche war beendet.

Das war vor fast zwei Jahren. Seither hat die Kirchheimerin kaum eine der zweistündigen Freitag-Trainingseinheiten in Ludwigsburg versäumt und in über 100 An- und Rückfahrten annähernd 10  000 Autokilometer heruntergespult. Das Rollstuhltanzen möchte sie „nicht mehr missen“, und ihre Begeisterung hält an. Mit Michael Zeltwanger bildet sie eines von 20 im TCL organisierten Rollstuhltanzpaaren, die sich darin abwechseln, bei Sportlerbällen, Dorffesten, Behinderten-Veranstaltungen, Firmen-Events oder Musical-Aufführungen mit acht oder neun Duos die ausgeklügelten Choreografien von Sylvia Scheerer, einer ausgebildeten Übungsleiterin mit Lizenz des Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverbandes (ADTV), zu präsentieren.

„Unsere Rollstuhltänzer können von jedermann gebucht werden“, sagt Christine May. Das Honorar, das ein Veranstalter an den TC Ludwigsburg zahlen muss, richtet sich nach dem jeweils anfallenden Arbeits-, Zeit- und Organisationsaufwand. Oft sind es nur ein paar Hundert Euro – viel verdient ist nicht.

Auf fünf bis zehn Show Acts kommt die TCL-Rollstuhltanztruppe pro Jahr, und ins Ausland tourte sie auch schon. Die Nachfrage nach den Formationskünstlern aus Schwaben ist nicht schlecht. Was auch am guten Ruf liegt, der dem Verein vorauseilt. „Der TC Ludwigsburg ist einer unserer Top-5-Vereine“, stellt Daniel Reichling, Pressesprecher des Deutschen Tanzsport-Verbandes (DTV), dem Barockstadt-Club die Bestnote aus. Dass das so ist, ist auch besagter Sylvia Scheerer zu verdanken, die als Baumeisterin der Rollstuhltanz-Hochburg im Südwesten gilt.

Michael Zeltwanger ist derweil froh, dass er im Tanzsportzentrum Ludwigsburg seine sportliche Heimat gefunden hat. Ohne die wäre das Leben des MS-Patienten ein großes Stück ärmer. Wie seine teckstädtische Partnerin war er von jeher ein leidenschaftlicher Freizeittänzer. „Ich habe vor meiner Erkrankung getanzt, und ich tanze mit meiner Erkrankung“, sagt er. Beharrlich trotzt er den physischen Schwächephasen, denen er temporär ausgesetzt ist. Und dem Unwissen über den kommenden Krankheitsverlauf. „Es gibt Tage, da bin ich nicht in der Lage, über Treppen aus dem Haus zu gehen und zu meinem Auto zu kommen“, sagt er. Dann muss er sich abholen lassen oder warten bis Linderung kommt.

Als Aufmunterung dient oft der Gedanke an seinen Sport. Oder an den jüngsten Showauftritt. Neulich tourte die dezimierte TCL-Rollstuhltanztruppe in zwei behindertengerechten Pkw in den Bad Wildbader Stadtteil Calmbach: Einlagetanzen bei der städtischen Sportlerehrung, in der Ex-FCC-Fußballer Robin Hack für seine Berufung in die U 17-Nationalmannschaft die herausragende Ehrung erfuhr. Michael Zeltwanger/Christine May ergatterten für ihre 12-minütige Darbietung zusammen mit drei Ludwigsburger Rolli-Solotänzern kaum weniger Beifall, und hinterher hatte sich der Aufwand für alle gelohnt. „Wer so viel öffentliche Aufmerksamkeit erhält, trainiert das Jahr über gerne so hart“, sagt Christine May, die in der Crew an diesem Abend die einzige Fußgängerin war.