Lokalsport

Den Spieß einfach umgedreht

Stefan Schumacher tritt beim gestrigen Prozessauftakt als Geläuterter und Ankläger auf

Stefan Schumacher hat beim Prozessauftakt vor dem Stuttgarter Landgericht gestern schwere Vorwürfe gegen Mannschaftsärzte im Team Gerolsteiner erhoben und seinen früheren Teamchef Hans Holczer erneut der Mittwisserschaft bezichtigt. Im Betrugsverfahren gegen den Radprofi geht es um die Kernfrage, wie viel Holczer wusste und darum, ob Schumacher zum ersten deutschen Dopingsünder wird, der den Gerichtssaal als verurteilter Straftäter verlässt.

Der deutsche Radrennfahrer Stefan Schumacher steht am 10.04.2013 im Landgericht in Stuttgart (Baden-Württemberg). Links im Hinte

Stuttgart. Das Medienecho ist seit Tagen enorm, von einem wegweisenden Prozess für den deutschen Sport ist die Rede, und nun stellt sich da einer hin und versucht die ganze Geschichte kleinzureden. Von einem Präzedenzfall könne keine Rede sein, es gehe im Kern nicht um Sport, sondern um die Frage, ob Vermögen betrügerisch erworben worden sei. Sein Eingangsstatement hätte sich der Tübinger Kriminologe und Rechtsprofessor Dieter Rössner getrost sparen können. Schließlich genügte ein Blick auf die Verteidigerbank, um den wahren Stellenwert des Prozesses zu ermessen. Mit Rössner und seinem Heidelberger Kollegen Michael Lehner saßen dort zwei der renommiertesten Sportrechtler des Landes, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie ihrem Mandanten zu einem Freispruch verhelfen wollen.

Auf dem Papier geht es um exakt 151 462,50 Euro. Das entspricht drei Monatsgehältern, die Stefan Schumacher im Sommer 2008 erhalten hat, obwohl er gegenüber seinem damaligen Arbeitgeber, der Holczer Radsport Marketing GmbH, mehrfach versichert hatte, niemals gedopt zu haben. Die Wahrheit ist bekannt und sieht anders aus: Im Juli 2008 gewann Schumacher bei der Tour de France beide Zeitfahren, trug zwei Tage lang das Gelbe Trikot und wurde im Oktober im Nachhinein positiv auf Cera getestet. War Holczer nun der ahnugslose Betrogene oder hat er über die Doping-Praktiken seiner Fahrer Bescheid gewusst? Für Stefan Schumacher stellt sich diese Frage nicht: „Ich habe ihm nie direkt gesagt, dass ich gedopt habe, aber jeder wusste, was gespielt wird.“

Hondo, Rebellin, Totschnig, Leipheimer, Kohl, Schumacher – die Liste der überführten Doping-Sünder im einstigen Saubermann-Rennstall Gerolsteiner ist tatsächlich lang. „Holczer hatte als Teamchef unmittelbaren Kontakt mit den Ärzten,“ sagt Roessner. „Wenn er nichts davon gewusst hätte, wäre dies ein Witz.“ Der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke, einer der entschiedensten Doping-Bekämpfer der Republik und gestern Prozess-Beobachter, wird noch deutlicher. Dass Holczer nach seinem Ausstieg beim russischen Rennstall Katjuscha inzwischen als Berater des russischen Radsportverbands fungiert, hält er für einen Skandal. Bei Hondo seien damals Präparate russischer Herkunft festgestellt worden, die in Deutschland nicht zugelassen waren, behauptet Franke. „Wenn‘s hart wurde ließ Gerolsteiner russische Ärzte einfliegen – extra zur Tour.“

Immer wenn es zwischen Richter und Angeklagtem um Vier-Augen-Gespräche zwischen dem Teamchef und seinem einstigen Zögling ging, blieb gestern vieles zwischen den Zeilen hängen. Der Vorsitzende Martin Friedrich versäumte es dabei mehrmals, entschieden nachzuhaken. Als Schumacher 2006 im Straßenrennen um die deutsche Meisterschaft nicht seinen besten Tag erwischte, soll Holczer ihn im Ziel gefragt haben: „Hast du bei der Hitze zuviel Synacthen (ein künstliches Hormon, das auf der Dopingliste steht, Anm. d. Red.) geblasen?“ Er habe das verneint, sagt Schumacher. Dem habe Holczer entgegnet: „Du kannst es mir ruhig erzählen, ist kein Ding.“

Auch an jenem 16. Juli 2008, dem Tag, den Stefan Schumacher als den „schlimmsten seines Lebens“ beschreibt, soll es eine „Art der Kommunikation“ gegeben haben, an dem jeder wusste, was gespielt wird. Als der zweifache Etappensieger Riccardo Ricco während der Tour verhaftet wurde und damit klar war, dass es fortan ein Nachweisverfahren für Cera geben würde, sollen alle im Gerolsteiner-Teambus gejubelt haben – bis auf Schumacher und den Österreicher Bernhard Kohl, die sich während der Tour das „schnellste Zimmer der Welt teilten“, wie die Presse später schrieb.

Eine Szene, die Holczer in seinem 2010 erschienenen Buch „Garantiert positiv“ ausführlich beschreibt. Genauso wie das abendliche Gespräch im Hotelzimmer, an dem außer Holczer und Schumacher auch Sportchef Christian Henn und Teamarzt Mark Schmidt teilnahmen und in dem Schumacher auf sein merkwürdiges Verhalten im Bus angesprochen wurde. Um Mitternacht soll Schumacher völlig aufgelöst dann noch einmal zu Holczer aufs Zimmer gekommen sein. Der nennt an dieser Stelle im Buch keine Details – der Nürtinger schon: Er wolle nur wissen, ob in den kommenden Tagen die Bombe platzt, soll Holczer gefragt haben. „Mach dir keine Sorgen“, war Schumachers Antwort, ehe der Teamchef das Gespräch angeblich mit den Worten beendete: „Ich will es auch gar nicht wissen.“

Schumacher, der nach seiner umfassenden Doping-Beichte gestern vor Gericht sichtlich befreit wirkte, skizzierte den Richtern noch einmal lückenlos den Verlauf einer gescheiterten Karriere. Vom Jungen, der als Zwölfjähriger im Verein mit dem Radsport beginnt, mit 20 beim damaligen Branchenführer Team Telekom seinen ersten Profivertrag erhält und anschließend als Lückenbüßer „verheizt“ wird. Er muss feststellen, dass man als deutscher Nachwuchsfahrer in einem internationalen Team keine Chance hat und „dass gute Leistungen irgendwann nicht mehr reichen.“

Mit 21 Jahren verwendet er erstmals Wachstumshormone, dazu Cortison, um die Nebenwirkungen zu dämpfen. Später folgt der Griff zu Epo. Doping wird auch in Jahren bei unterklassigen Teams zum ständigen Begleiter. Fachlichen Rat erhält er von Medizinern, im Freiburger Leistungszentrum und ab 2006 auch bei Gerolsteiner. „Ich ging aktiv auf die Ärzte zu, und die beschafften die Mittel.“ Ab April 2008 auch Cera. Seine erste Dosis erhält er aus den Händen eines langjährigen Mannschaftsarztes, dessen Namen er trotz mehrfacher Nachfrage des Richters verschweigt. Später liefern sein Teamkollege Bernhard Kohl und der verurteilte Doping-Dealer Stefan Matschiner den Stoff. Schumacher stellt aber auch klar: „Anders als bei Armstrongs US-Postal-Team gab es bei Gerolsteiner keinen Dopingzwang.“

Bernhard Kohl wird am 23. April, dem dritten Verhandlungstag, als Zeuge vernommen. Ob dann erstmals Namen ins Spiel kommen oder die Hintermänner weiter im Dunkeln bleiben werden, ist die spannende Frage. Schumachers Anwalt Michael Lehner zeigte sich gestern zuversichtlich, dass die Anonymität endlich sein wird. „Der Prozess ist noch lang“, meint er, „und es gibt noch viele Zeugen.“

Am 18. April wird erstmals Hans-Michael Holczer Gelegenheit bekommen, vor Gericht auszusagen. Der 59-jährige aus Herrenberg, der jahrelang als Vorkämpfer für einen sauberen Radsport auftrat, sieht sich als Opfer einer gezielten Kampagne. Insgesamt acht Verhandlungstage sind im Prozess angesetzt. Mit der Urteilsverkündung ist spätestens am 4. Juni zu rechnen. Im Falle einer Verurteilung könnte Stefan Schumacher sogar Gefängnis drohen.

Kommentar: Flucht nach vorn

Wann der richtige Zeitpunkt für den entscheidenden Angriff ist, lernt man als Radsportler schon in jungen Jahren. Stefan Schumacher hat in seiner langen Karriere als Profi schon unzählige Attacken geritten, stets mit dem Ziel, den Gegner vor dem Ziel zu zermürben. Mit Schumachers Doping-Beichte an Ostern mögen nach Jahren hartnäckigen Leugnens viele nicht mehr gerechnet haben. Wirklich überraschend kam das Geständnis nicht. Angriff ist die beste Verteidigung, das gilt nicht nur im Rennen, sondern auch vor Gericht. Einem gewieften Strategen, als der Schumachers Anwalt Michael Lehner zweifellos gilt, dürfte so kurz vor Prozessbeginn nicht schwer gefallen sein, seinen Mandanten vom Nutzen eines umfassenden Geständnisses zu überzeugen.

Das Spiegel-Interview zu Ostern ist eine offene Kriegserklärung des Nürtingers an seinen einstigen Teamchef Hans Holczer, der jahrelang als Galionsfigur im Kampf für einen sauberen Radsport daherkam. Vor allem aber ist es ein cleverer Schachzug vor Gericht. Wer im Bilde war, der kann am Ende kein Betrogener sein. Die Rechnung ist so simpel wie sie klingt. Ob Schumacher gedopt hat oder nicht, mit dieser Frage müssen sich die Richter nun nicht mehr befassen. Schumacher hat den Rücken frei, um sich auf die entscheidende Frage zu konzentrieren und letztlich darauf zu hoffen, dass das Gericht sie am Ende verneint: War es möglich, Holczer zu täuschen? Allein darum geht es seit gestern im Stuttgarter Prozess.

Der Arztsohn aus Nürtingen hat seinen Ruf als Sportler ruiniert und eine Menge Geld verloren. Schulden habe er keine, hat er gestern vor Gericht bekundet, er „komme so knapp über Null.“ Viel wichtiger als die Frage nach einer gerechten Strafe wird sein, ob es diesmal gelingt, die wahren Täter hinter den Sportlern zu enttarnen. Es ist kein Zufall, dass die grün-rote Landesregierung in Stuttgart pünktlich zum Prozessbeginn einen weiteren Versuch unternimmt, mit einem Gesetzesentwurf für ein bundesweites Anti-Doping-Gesetz die Hürde im Bundesrat zu nehmen. Fände das Versteckspiel auf diesem Weg ein Ende, dann wäre dieser Prozess ein echter Erfolg.Bernd Köble