Lokalsport

„Die Journalisten haben mitgesoffen“

Interview mit Ex-Handball-Nationaltorhüter Andreas Thiel

Herr Thiel, wenn Sie als Fachanwalt heute jüngere Mandanten in Familienangelegenheiten vertreten, wissen die eigentlich, wen Sie da vor sich haben?

Nein, nicht mehr. Das reduziert sich auf meine Generation plus minus zehn Jahre. Das ist auch ok so. Ich saß zu Heiners Zeiten (Bundestrainer Heiner Brand, Anm. d. Red.) vor etwa 15 Jahren bei einem Länderspiel in der Dortmunder Westfalenhalle mal mit auf der Bank. Nach dem Spiel kam ein kleiner Junge zu mir und wollte ein Autogramm. Danach drehte er sich um und fragte: Mama, wer ist das? Die Mama bekam einen roten Kopf und meinte: Das war in meiner Zeit.

Sie haben mit dem VfL Gummersbach zahlreiche Vereinserfolge gefeiert. Aus einem Titel mit der Nationalmannschaft wurde dagegen nichts. Ärgert Sie das?

Gar nicht. Da muss ich noch nicht mal lügen. Dass ich bei einer WM maximal Vierter war - meine Güte. Das ist eben so. Alles hat seine Zeit. Ich freue mich über die jüngsten Erfolge der Nationalmannschaft. Schließlich generiere ich einen Teil meines Einkommens auch aus der Tatsache, dass die deutsche Mannschaft erfolgreich ist. Ist sie nicht erfolgreich, hat auch die Bundesliga ein Problem, und hat die Bundesliga ein Problem, ist nicht genug Kohle fürs Personal da, und dann weiß ich nicht, ob der Justiziar in Teilzeit noch bezahlt werden kann. So pragmatisch muss man das sehen.

Der damalige Bundestrainer Pet­re Ivanescu hat Sie einmal als den intelligentesten Torhüter bezeichnet, den er je trainiert habe. Was zeichnet einen intelligenten Handball-Torhüter aus?

Da war natürlich die Spielintelligenz gemeint. Man nennt das Antizipationsfähigkeit. Zu erkennen, wohin Bälle kommen können. Eine Eigenschaft, die ich heute übrigens durchaus gelegentlich vermisse. Zugegeben, das war früher auch leichter. Heute kommt aus der zweiten Reihe Unglaubliches an Wucht, dass man sich fragt, wie die Jungs heute überhaupt noch einen Ball halten. Den freien Wurf, den trau ich mir vielleicht sogar heute noch zu. Aber zweite Reihe, das ist eine ganz andere Welt geworden.

Wenn Sie Ihre heutigen Kollegen Wolff oder Heinevetter beobachten - wie hat sich die Rolle des Torhüters verändert?

Nicht so sehr. Sie werden nicht Meister und Sie retten sich im Abstiegskampf nicht den Arsch, wenn da hinten nicht einer ist, der sein Handwerk versteht. Der Torhüter im Handball, vielleicht noch im Eishockey, hat im Vergleich der Ballsportarten den größten Anteil am Mannschaftserfolg.

Gibt es einen Moment in Ihrer Karriere, der sich besonders tief ins Gedächtnis eingebrannt hat?

Mein letztes Pflichtspiel für den VfL. Das war das Finale um die Meisterschaft 1991 in Magdeburg. Wir hatten im Hinspiel drei Tore vorgelegt. Kurz vor dem Abpfiff lag Magdeburg zwei vorn, bei besserer Auswärtstorbilanz. Der letzte Wurf ging haarscharf am rechten Pfosten vorbei, und wir waren erster gesamtdeutscher Meister. Die Party hinterher werde ich nie vergessen.

Apropos Party. Sie haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass Ihre Generation auch nach dem Spiel einiges wegstecken konnte.

Warum auch. Was wahr ist, bleibt wahr. Auf uns lag zum Glück noch nicht so der Fokus. Es gab noch keine sozialen Medien. Es gab allenfalls ein paar lokale Journalisten, und die haben alle mitgesoffen. Deshalb kam danach auch nie was raus.

Von Ihnen stammt der Satz: In Hofweier reicht ein Kasten Bier die ganze Saison, in Gummersbach nach Auswärtsspielen bis zur Autobahnauffahrt.

In Hofweier spielten nur die Gesunden. Das mit dem Kasten Bier war aber nicht nur bei uns so. Das galt für Großwallstadt, Essen oder Wallau-Massenheim genauso. Es war eben alles ein bisschen entspannter. Wir hatten viel Spaß. Ich habe es immer als ein Privileg betrachtet, dass wir das tun durften, worin wir gut sind und was uns Spaß macht und dafür auch noch Geld bekommen. Auch wenn das mit heute nicht vergleichbar ist.

Können Sie sich erinnern, wer Sie zum „Hexer“ gemacht hat?

Das war 82 oder 83 nach einem Sieg in Großwallstadt. Ich habe, wenn ich mich recht erinnere, sechs Siebenmeter gehalten. Danach hieß es, der Nachfolger des „Hexers“ sei gefunden. Der eigentliche „Hexer“ mit der legendären Parade in Karl-Marx-Stadt war ja Manfred Hofmann (der Nationaltorhüter des TV Großwallstadt hielt am 6. März 1976 im Olympia-Qualifikationsspiel gegen die DDR in der letzten Sekunde den entscheidenden Siebenmeter. Zwei Jahre später wurde er mit der deutschen Mannschaft Weltmeister, d. Red.).

Ihr zweiter Spitzname ist Grummel Griesgram.

Den habe ich von Heiner.

Gehen Sie zum Lachen in den Keller?

Ganz und gar nicht. Eigentlich gehöre ich zur Kategorie rau aber herzlich. Sagen wir‘s mal so: Berufsfreundlichen begegne ich mit Misstrauen. Ich feiere aber sehr gerne. Mit mir kann man jede Menge Spaß haben.

Sie haben drei Töchter. Keine davon spielt Handball. Da haben Sie als Vorbild aber gründlich versagt.

Nein, das stimmt nicht ganz. Meine Jüngste spielt jetzt Handball. Die ist nämlich den neuen Helden erlegen. Auch so ein Indiz für die Wertigkeit des Handballs. Sie ist 16, hat davor geturnt und spielt jetzt beim 1. FC Köln im Tor. Das hängt eben auch von den Gegebenheiten bei uns vor Ort ab. Wären sie in Württemberg aufgewachsen, ich bin sicher, dass alle meine Töchter Handball spielen würden.

Das haben Sie jetzt schön gesagt. Wenn Sie in Lenningen im Tor stehen sollten, haben Sie bestimmt viele Freunde dort. Werden Sie?

Ich geh auf die Sechzig zu. Da tue ich mir und denen, die zuschauen, keinen Gefallen mehr. Mal schauen, wie viele Torhüter da sind. Das wird ganz kurzfristig entschieden.   Bernd Köble