In ihrer Heimat Usbekistan ist sie eine nationale Heldin. Ihr spitzbübisches Lächeln strahlt von Plakatwänden und ist auf Briefmarken verewigt. Olympische Spiele ohne sie, das war für ihre Landsleute über fast drei Jahrzehnte hinweg undenkbar. Als sie ihre internationale Laufbahn begann, zierten Hammer und Sichel, die Staatssymbole der damaligen Sowjetunion, ihr Trikot. Im Herbst könnte sich der Kreis schließen und eine unglaubliche Karriere ein endgültiges Ende finden - im Dress des VfL Kirchheim. Dann ist Oksana Chusovitina 42 Jahre alt. In einem Sport, in dem schon 20-Jährige ans Karriereende denken.
Hätte nicht der Februar im Kalender gestanden, viele hätten es für einen Aprilscherz gehalten. Die mehrfache Welt- und Europameisterin, Olympiasiegerin und Rekord-Olympionikin bewirbt sich um einen Platz im Kirchheimer Zweitliga-Team. Dabei hatte sie nach den Spielen in Rio offiziell ihren Rücktritt vom Leistungssport verkündet. Nun also das überraschende Comeback. Doch warum gerade hier, unter der Teck? „Die Turnwelt ist klein“, sagt VfL-Trainerin Michaela Pohl. „Man kennt sich.“ Die andere Wahrheit lautet: Im Februar haben alle Teams, die in den Bundesligen vorne mitmischen wollen, ihre Ausländerplätze in der Regel besetzt. Als solche gilt Oksana Chusovitina, obwohl sie neben dem usbekischen auch einen deutschen Pass besitzt und als die erste gesamtdeutsche Europameisterin in den Geschichtsbüchern steht. Sechs Jahre lang vertrat sie die Farben des DTB. Seit 2013 turnt sie wieder für ihr Heimatland.
Sie kommt nicht los vom Turnen, das ihr ganzes Leben bestimmt hat, und ihre Klasse macht die Sache nicht leichter: Nur vier Wochen nach ihrem Rücktritt vom Rücktritt holte sie im März in Baku den Weltcupsieg in ihrer Spezialdisziplin, dem Sprung. Was das für den VfL bedeutet, ist klar: Hier kommt keine alternde Diva, sondern eine Turnerin auf Weltklasse-Niveau.
Ein Deal, der seinen Preis hat. Nicht unbedingt in Euro und Cent, denn die 41-Jährige geht für ein vergleichsweise bescheidenes Salär an den Start. Für den VfL ist es der Sündenfall. Abteilungsleiter Heiko Paul sagt ungeschminkt: „Das widerspricht allem, was wir bisher vertreten haben.“ Keine bezahlten Kräfte, allein das Vertrauen in den eigenen Nachwuchs, das war in der Kirchheimer Talentschmiede bisher in Stein gemeißelt. Warum also doch? Die Antwort ist einfach: Chusovitinas Offerte traf den VfL nicht nur an einem wunden Punkt, sondern auch in Zeiten größter Not. Mit Pia Pohl, Sarina Maier, Lory Fröchtling und Joana Varro fallen vier erfahrene Stammkräfte aus. Mehr als die Hälfte der Mannschaft ist zwischen elf und 13 Jahre alt und ohne jede Erfahrung in der Liga. Sie behutsam heranzuführen an das Niveau in der zweiten Liga - unter gegebenen Voraussetzungen undenkbar. VfL-Trainerin Michaela Pohl käme das Wort Himmelfahrtskommando zwar nie über die Lippen. Sie sagt: „Das wird eine sehr schwere Saison.“
Sportliche Argumente zählen
Mit Chusovitina an der Spitze fällt ein beträchtlicher Teil der Verantwortung ab. Abteilungschef Heiko Paul hält mit ihr auch den Klassenerhalt für möglich. Für die zwar blutjunge, aber hoch talentierte Mannschaft wäre das ein Wechsel auf die Zukunft. Jeder weiß: Die Klasse zu halten, ist allemal leichter, als erneut den Aufstieg zu schaffen. Für die Trainerin, die die Kirchheimer Linie stets konsequent vertrat, das einzige Argument, das die Entscheidung rechtfertigt. „Im kommenden Jahr“, prophezeit Michaela Pohl, „werden wir eine stabile Mannschaft haben.“ Ganz sicher ohne Oksana Chusovitina. Leicht fiel es trotzdem nicht. Auch die Männer des VfL liebäugeln mit dem Zweitliga-Aufstieg und damit auch mit Verstärkung von außen. Entsprechend kontrovers verliefen die Diskussionen im Abteilungsausschuss. Am Ende fiel die Entscheidung einstimmig.
Wie groß die VfL-Chancen ohne Chusovitina wären, darüber muss zumindest niemand spekulieren. Im Auftaktwettkampf am 20. Mai in Waging am See wird sie wegen eines Länderturniers in den USA fehlen. Zum zweiten von insgesamt nur drei Wettkämpfen in diesem Jahr wird die Mutter eines erwachsenen Sohnes direkt von der WM in Montreal zur Mannschaft stoßen. Und wie reagierten ihre 30 Jahre jüngeren Teamkolleginnen? „Erst ungläubig, dann erleichtert“, sagt Michaela Pohl.