Er hat den Punch, er hat die Leidensfähigkeit und er hat einen bärenstarken Willen. Ob das reicht für ein erfolgreiches Debüt bei der Vuelta, auf diese Frage wird Jannik Steimle in den folgenden knapp drei Wochen eine Antwort bekommen. Schon jetzt hat der 24-Jährige aus Weilheim allen Grund, mit sich und dem wohl ungewöhnlichsten Jahr im Radsport Frieden zu schließen. Sein Sieg bei der Slowakei-Rundfahrt Mitte September war ein deutlicher Fingerzeig im ersten Jahr als Profi in der World Tour.
Jetzt setzt das erneut erfolgreichste Team der Saison bei der Vuelta auf den Nachwuchsmann aus dem Schwabenland. Jannik Steimle ist einer von zwölf Fahrern aus dem Team von Deceuninck Quick-Step, die heute im baskischen Irun auf die erste von insgesamt 18 Etappen der Spanien-Rundfahrt gehen. Zugpferd der Mannschaft ist mit dem Iren Sam Bennett der Gewinner des grünen Trikots für den besten Sprinter bei der Tour de France. Ohne einen Fahrer fürs Gesamtklassement geht es für den belgischen Rennstall bei der letzten großen Schleife in diesem Jahr um den einen oder anderen Etappenerfolg. Top-Favoriten auf den Gesamtsieg sind der diesjährige Tour-Zweite Primoz Roglic und der vierfache Tour-Sieger Chris Froome.
Dabei sein ist alles? Nicht für Jannik Steimle, der zwar weiß, dass allzu forsche Töne eines Debütanten nicht gut ankommen, und der, wie er selbst sagt, einen Heidenrespekt hat vor der Herausforderung. Doch wer sich keine Ziele setzt, der kann auch nichts erreichen. „Wenn ich einen guten Tag haben sollte und die Chance da ist, will ich sie nutzen“, sagt Steimle. Grünes Licht dafür hat er. Genauso wie seine beiden jungen Teamkollegen, der Italiener Andrea Bagioli (21) und der US-Amerikaner Ian Garrison (22), die beide als Novizen ins Rennen gehen. „Ohne Kapitän am Start zu sein, hat auch Vorteile,“ meint Jannik Steimle. „Da hat jeder im Team ganz automatisch mehr Freiheiten.“
Schwere Bergankünfte
Zumindest an Tagen, an denen nicht die schnellen Leute im Fokus stehen. Nur vier echte Sprintetappen hat die Vuelta im Programm. Weil viele Topsprinter auf die schwere Prüfung zum Saisonende verzichteten, konzentriert sich alles auf das Duell der Endschnellsten zwischen Sam Bennett und dem Pfälzer Pascal Ackermann (Bora Hansgrohe). Wenn es hügelig wird, könnte die Stunde des Jannik Steimle schlagen. „Es gibt schon die eine oder andere Etappe, die mir liegen könnte“, sagt er. „Da müsste freilich alles passen.“
Generell gilt: nicht allzu lange warten. Wie sehr die Kräfte in der Schlusswoche schwinden, vermag auch der Weilheimer vor seiner ersten großen Rundfahrt nicht zu sagen. Zumal mit den Bergankünften auf dem Tourmalet in den französischen Pyrenäen, dem Alto de l’Angliru (siehe Info) und dem Alto de la Covatilla am vorletzten Tag drei epische Bergetappen auf das Fahrerfeld warten. Drei von insgesamt sieben, die das Roadbook in diesem Jahr bereithält. Steimle ist kein Kletterkünstler. Obwohl er vielseitiger geworden ist, liegt seine Stärke im welligen Gelände mit kurzen Anstiegen, wo Kraft und Schnelligkeit gleichermaßen gefragt sind. Er zeigt Respekt, aber keine Furcht. „Es gibt Fahrer, die deutlich schlechter über die Berge kommen,“ sagt er.
Sollte er am 8. November das Ziel in der spanischen Hauptstadt erreichen, wäre das in jeder Hinsicht ein Erfolg. Nicht allein für ihn, denn die wenigsten glauben, dass die Vuelta angesichts rasant steigender Infektionszahlen in Spanien regulär zu Ende gehen wird. Gut möglich also, dass nicht die Tour-Legende Tourmalet oder die Monsterrampen am l’Angliru in diesem Jahr den Scharfrichter auf der iberischen Halbinsel spielen, sondern ein Virus mit dem spanischen Namen Corona.