Nele Rüping vom VfL Kirchheim hat die Diskussion um die Ganzkörperanzüge interessiert verfolgt. Als Drittliga-Turnerin trägt sie selbst stets einen Dress mit ausgeschnittenen Beinen und hatte damit noch nie ein Problem. „Ich finde die kurzen Anzüge einfach megaschön und habe während des Turnens nicht das Gefühl, als könnte das aufreizend sein. Allerdings kann ich nachvollziehen, dass es junge Frauen gibt, die sich im langen Dress wohler fühlen“, sagt die 16-jährige Gutenbergerin. Deshalb findet sie es richtig, dass die deutschen Elite-Turnerinnen Kim Bui, Sarah Voss und Elisabeth Seitz bei der EM mit ihren langen Einteilern für Aufsehen gesorgt und einem scheinbar schlummernden Thema zur öffentlichen Diskussion verholfen haben. Denn eins ist auch für Nele Rüping klar: „Es ist nicht schön, wenn man von sich Bilder im Netz findet, die von der Perspektive her problematisch sind.“
Ihre Trainerin Michaela Pohl, die seit 16 Jahren auch als Kampfrichterin tätig ist, sieht das ganz genauso. „Es muss nicht sein, dass man eine Grätsche fotografiert.“ Bei ihren Turnerinnen, die von der 3. Bundesliga über die Regional- bis zur Nachwuchsliga und in der Talentschmide aktiv sind, war ein langer Anzug noch nie Thema. „Erlaubt sind die ja schon seit vielen Jahren. Ein guter Trainer informiert seine Athletinnen darüber, und letztlich kann das jede so halten, wie sie will.“ Was das Korrigieren im Training angeht, sei es jedenfalls besser, wenn die Muskulatur sichtbar ist.
Kein Nachteil im Wettkampf
Bei den Rhythmischen Sportgymnastinnen des TSV Ötlingen sind lange Anzüge bereits eine Selbstverständlichkeit. „Das ist bei uns vor allem dann oft ein Thema, wenn die Mädchen in die Pubertät kommen. Das Schöne in unserem Sport ist, dass es die Freiheit gibt, Anzüge mit Beinen oder ohne Beine zu tragen“, erklärt Trainerin Tugce Wenzel. Für die Athletinnen bringt es – wie im Turnen – bei Wettkämpfen keinen Nachteil. „Es gibt sozusagen keine Strafpunkte, wenn die Gymnastin einen Anzug mit Beinen trägt. Natürlich gibt es aber einige Vorschriften, wie beispielsweise, dass die Beine des Anzugs nicht arg verziert werden dürfen“, führt Wenzel aus. Sie und die Trainerkollegen sprechen kurz vor der Saison, wenn das Thema Anzüge wieder aktuell ist, mit den Gymnastinnen über die neue Kleidung, „und tun das, womit sich alle Mädels am wohlsten fühlen“, betont die Trainerin. Wichtig sei dabei, dass der Anzug kein Hindernis für eine bestmögliche Performance sein darf.
Ganz genauso würde es Michaela Pohl halten, sollte der Wunsch nach langen Anzügen bei den VfL-Turnerinnen nun doch einmal aufkommen. „Wir müssen allerdings auch berücksichtigen, dass der Wettkampfanzug von groß bis klein passen muss. Für die Eltern wäre ein langer Einteiler sicher auch teurer“, gibt die Trainerin und Geschäftsstellenleiterin zu bedenken. Aktuell steht dergleichen wegen Corona aber sowieso nicht an. Ganz im Gegenteil. Wegen der anhaltenden Pandemie plagt die Trainerin derzeit ganz anderer Kummer. „Ich sorge mich ehrlich um den Breitensport. Wer weiß schon, ob wir die Kinder nach Corona wieder vom Sofa runterbekommen“, sagt Michaela Pohl schulterzuckend. Als Sportart, die in der Halle stattfindet, könnte das Turnen ins Hintertreffen geraten. Sich endlich wieder um Wettkampfanzüge Gedanken machen zu müssen, wäre da geradezu ein Segen.
Ein Zeichen für mehr Selbstbestimmtheit
Bei der Turn-EM in Basel standen nicht nur die Leistungen des deutschen Nationalteams im Fokus. Kim Bui, Elisabeth Seitz und Sarah Voss haben in ihren Ganzkörperanzügen eine Diskussion angestoßen, deren Dimension sie selbst niemals für möglich gehalten hätten. „Wir hatten die Idee schon vor längerer Zeit und uns immer gefragt, was wohl passiert, wenn wir das einfach machen“, erklärt Kim Bui.
Die quirlige Frau aus Ehningen ist mit ihren 32 Jahren zwar noch jung, im Turnen gehört sie aber definitiv in die Kategorie „alter Hase“. Seit 28 Jahren geht die Studentin der Technischen Biologie an die Geräte, hat zehn deutsche Meistertitel im Einzel, arbeitet gerade an ihrer dritten Olympiateilnahme und ist zudem seit 2009 Athletensprecherin des Deutschen Turnerbundes. Wie eigentlich alle anderen Turnerinnen auch trug sie bei Wettkämpfen stets einen Anzug mit ausgeschnittenen Beinen. „Vor Jahren habe ich bei einem Weltcup in Doha mal eine Turnerin im langen Anzug gesehen. Das war fürs Auge natürlich total ungewohnt, aber es ist erlaubt“, erzählt Kim Bui.
Die Version mit den langen Beinen bietet aus ihrer Sicht gleich mehrere Vorteile. „Wir kleben ja alle unsere Anzüge am Po und an den Beinen fest, damit nichts verrutscht“, so die 32-Jährige, die dabei auf ein Mittel zurückgreift, das eigentlich Kompressionsstrümpfe fixieren soll. Beim langen Einteiler verrutscht nichts, und die Turnerin kann sich voll und ganz auf ihre Übung konzentrieren. „Uns ging es darum, aufzuzeigen, dass es eine Alternative gibt und es schön ist, dass man wählen kann. Einfach so, wie man sich wohler fühlt. Das nimmt vor allem den jüngeren Turnerinnen den Druck.“
Dass die Thematik solche Wellen geschlagen hat, findet Bui „ganz schön krass“. In ihren Augen zeigt das aber, dass tatsächlich Gesprächsbedarf besteht. Wobei sie entschieden betont, dass sich die Anzug-Debatte nicht an den derzeit im Turnen diskutierten Missbrauchsfällen entzündet. „Das wurde vielfach in einem Atemzug genannt, hat damit aber nichts zu tun.“ Als Athletensprecherin hat sie jedoch auch hierzu Stellung bezogen, sprach jüngst vor dem Sportausschuss des Bundestages über Misshandlungen, Demütigungen und Erniedrigungen im Turnsport und darüber, was dies mit heranwachsenden Menschen macht. In ihren Augen müssen nun alle gemeinsam zeigen, dass Leistungssport möglich ist, „ohne das Wohlergehen von Menschen dafür zu opfern“.
Ob die Ganzkörperanzüge künftig öfter bei Wettkämpfen zu sehen sein werden, muss sich zeigen. Kim Bui und ihre Mitstreiterinnen wollten jedenfalls „nichts revolutionieren“, was sich auch darin gezeigt hat, dass die Ehningerin im Finale der EM wieder im kurzen Anzug auftrat. „Wir sind gespannt. Vielleicht ist das einfach ein Prozess, der auch ein paar Jahre dauern kann.“ Sandra Langguth