Ein Sonntagmorgen im Mai. Der Schurwald präsentiert sich in prächtigem Grün und andächtiger Ruhe. Die Farbspiele in der Morgensonne sorgen mit für ein ganz exklusives Naturerlebnis. Auf einem Waldweg die Silhouette eines Läufers. Günter Scheeff heißt der Joggende, trägt enge Laufklamotten, ein kleines Rucksäckchen sowie eine Startnummer an der Hose. Der Beurener tut in dieser Traumkulisse das, was er als Freizeitaktivität auch in den vergangenen 35 Jahren gerne getan hat – einen Marathon bewältigen.
Beim Lichtenwalder Lauf-Event, in Coronazeiten gestreckt auf 16 Tage zwecks Entzerrung des Starterfeldes, wird der Ausdauersportler notgedrungen zum Einzelkämpfer und per GPS-Nachweis gewertet. Selbstverständlich kommt er an jenem ersten Maisonntag auch ins Ziel, was ihn einem nächsten Ziel ein Stück näherbringt: In wenigen Tagen soll mit dem 400. Marathon seiner Laufbahn eine magische Mauer fallen.
Nicht nur wegen dieser unfassbar wirkenden Marke wirkt die Lauf-Geschichte des 68-Jährigen beeindruckend. Sie begann vor rund 40 Jahren. Der damalige Tischtennisspieler schlug sich mit Übergewicht herum, hatte zudem Sehnsucht nach einem Ausgleich für den knallharten, schweißtreibenden Job in der Gießerei eines Automobilherstellers. Der aus einer alteingesessenen Obertürkheimer Familie Stammende („unser Aufzeichnungen reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück“) erinnert sich exakt an erste Laufversuche. „Anfangs schaffte ich lediglich ein paar Kilometer, doch bald schon eine Stunde ohne Pause“, sagt er mit typischem Stuttgarter Schwäbischakzent in der Stimme.
Was folgte, wäre idealer Stoff für dicke Bücher. Nur eines hat er jedoch tatsächlich beschrieben – sein eigenes Lauftagebuch. Dort finden sich fein säuberlich abgeheftet Notizen, Ergebnislisten und weitere Nachweise läuferischer Betätigung. Scheeff ist kein Aufschneider. Wenn der Marathon-Enthusiast vielmehr von seinen Lauferlebnissen erzählt, sprüht aus ihm pure Freude, seinen Sport schon so lange ausüben zu können. „Schön, dass ich mich mit 68 noch topfit fühle“, sagt der hagere Langstreckler dankbar.
Dabei ist ein Marathonlauf mit 42,195 Kilometern Länge nicht mit einem Kindergeburtstag vergleichbar. Wer jemals die längste olympische Laufdistanz absolviert hat, kennt jenes gravierende Problem, wenn es ab etwa 30 Kilometern physisch und psychisch richtig zur Sache geht.
Lobende Worte vom Olympioniken
Scheeff hat diese Intensität oftmals durchlebt. Noch im Juni soll am Neckarufer in Stuttgart nun Marathon Nummer 400 folgen. Erneut in Eigenregie, überwacht per GPS-Signal. Vorabkomplimente gibt es bereits von langjährigen Trainingskumpels. „Der Hammer“ sei es, was Scheeff leiste, sagt beispielsweise Dietmar Meisch (62). Der einstige Olympiateilnehmer (Neunter bei den Spielen 1988 in Seoul im 50-Kilometer-Gehen) kennt Qualen zur Genüge. „Zähigkeit“ beweise Scheeff – was aus dem Mund eines Olympioniken für einen Breitensportler fast wie eine Adelung klingt.
Auch Peter Born (72) hat mit dem Marathon-Dauerbrenner viele Trainingsstunden in Wald und Flur verbracht. „Ein Extremläufer“ sei Scheeff, dabei „unheimlich konstant“. Auch Born weiß von was er spricht. Der Nürtinger absolvierte dreißigfach den legendären 100-Kilometerlauf von Biel, war mit 7.43 Stunden über viele Jahre Kreisrekordhalter auf dieser Ultradistanz, wurde zudem 1986 mit dem Team der TG Nürtingen Zwölfter der Deutschen Marathonmeisterschaften.
Scheeffs Marathonsammlung wäre aber ohne eine weitere Person kaum zustande gekommen. „Alfred Brosch war ein großer Motivator“, ordnet Scheeff das Wirken des im Januar 2020 verstorbene Charismatikers ein. Der Frickenhausener scharte in seinem privaten Lauftreff über Jahrzehnte hinweg Langstreckler aus der Umgebung um sich. „Wobei auch die Geselligkeit nach vollzogenen Trainingseinheiten nicht zu kurz kam“, erinnert sich Günter Scheeff schmunzelnd. Um näher an der Trainingsgruppe zu sein, zog Scheeff 1991 sogar von Obertürkheim nach Frickenhausen, später nach Beuren.
Aufgeben war für den Marathonsammler übrigens nie ein Thema. Einzige Ausnahme war vor vielen Jahren der Ausstieg beim Marathon in St. Wendel, als Scheeff im Rennen ein Bandscheibenvorfall erlitt. „Da ging wirklich nichts mehr“, sagt er – ein Satz, den es in seiner wilden sportlichen Zeit sonst rein gar nicht gab.