Es gibt Geschichten, die lassen sich nicht erfinden. Während im klassischen Klub-Schachsport weltweit fast kompletter Stillstand herrscht, bricht ausgerechnet ein Schachfilm derzeit Rekorde. Mit rund 70 Millionen Streams in nur wenigen Wochen stellt „Das Damengambit“ die erfolgreichste Netflix-Miniserie aller Zeiten dar. Erzählt wird die fiktive Story des Waisenmädchens Elizabeth Harmon, das sich in den 1960er-Jahren gegen sämtliche ihrer männlichen Mitspieler durchsetzt und zur Schach-Großmeisterin aufsteigt. Onlinespielportale wie chess.com verzeichnen seit Erscheinen des Siebenteilers einen Millionenzuwachs an Usern, auf Ebay schnellten die Suchanfragen nach Schachbrettern um fast 300 Prozent in die Höhe.
Doch an der Basis, in den Vereinen, kommt vom Boom offenbar (noch) wenig an. „Es ist schon bitter, dass wir momentan virusbedingt solch einen gewaltigen Schwung nicht mitnehmen können“, hadert beispielsweise Tobias Traier, Erster Vorsitzender des Schachclubs Kirchheim. Seit dem 2. November verstauben im Ötlinger Haus der Vereine nämlich die Bretter, das Vereinsleben ruht. Wo kein Klubleben, da kaum Kontakt zu potenziellen Interessenten - so die Problemlage. „Natürlich versuchen wir, neue Mitglieder zu erreichen“, sagt Traier, dies sei jedoch in Lockdown-Zeiten extrem problematisch.
Einzige Ausflucht momentan für Spielaktivitäten: Online-Schach. Die Kirchheimer überlegen, in die Deutsche Online-Liga einzusteigen. Dort wird an virtuellen Brettern gespielt, ohne das Gesicht des Gegners sehen zu können - gewöhnungsbedürftig. Im Januar wird das vom Deutschen Schachbund mitinitiierte Projekt fortgesetzt. Die Kirchheimer könnten dann virtuell auf Teams aus ganz Deutschland treffen, im Idealfall im April bis in die Endrunde vorstoßen. Doch die Sorge bleibt. „Vor Beginn der Pandemie konnten wir uns über eine jahrelange positive Entwicklung freuen, durch die sonst üblichen und zurzeit fehlenden Neu-Eintritte kommt es aber im Jahresergebnis zu rückläufigen Mitgliedszahlen“, schätzt DSB-Präsident Ulrich Krause die bundesweite Situation ein. Es stehe zu befürchten, dass Ende Dezember noch viele Abmeldungen erfolgen. Krauses emotionaler Appell: „Bleiben Sie Ihrem Verein treu, denn es wäre sehr bedauerlich, wenn es Ihren Schachverein dann nicht mehr gibt, weil ihm die Mitglieder abhandengekommen sind.“
Tobias Traier gibt in dieser Hinsicht vorerst Entwarnung. „Aktuell haben wir noch keinen Rückgang, aber auch keinen Zuwachs“, berichtet der Vorsitzende des rund 40 Mitglieder zählenden Vereins.
Bei den Schachfreunden Nabern stehen die Figuren im Bürgersaal des Rathauses ebenso seit Anfang November für die 30 Mitglieder still. „Einzelne spielen derzeit zwar online“, berichtet der Klubvorsitzende Christoph Kandler, ein Start in der Deutschen Online-Liga sei jedoch nicht vorgesehen. Den Nabernern bietet sich zumindest eine halbwegs attraktive Alternative: Seit 2007 gibt es im Rathaus-Hof zwei Frei-Schachfelder, die allerdings witterungsbedingt eher eine Option von Frühjahr bis Herbst darstellten, wie Christoph Kandler betont.
Beim Schachclub Kirchheim ist ein sogenanntes Gartenschach mit einer Größe von 2 x 2 Metern vorhanden. „Mit warmer Jacke, warmen Schuhen und Mindestabstand prinzipiell zu jeder Jahreszeit spielbar“, findet Tobias Traier, der das Thema in den kommenden Wochen klubintern diskutieren möchte. „Die ganze Szene hofft, dass der Spuk bald vorbei ist und wir wieder an einem Schachtisch spielen können“, lautet indes Christoph Kandlers vorweihnachtlicher Wunsch.
Bis dahin bleibt den Brettspielern nur die Flucht in die virtuelle Welt, zum Freischach in den Garten oder an den Fernseher. Denn: Das Drama „Das Damengambit“ stellt zumindest einen Motivationsschub in diesen problematischen Zeiten dar.