Lokalsport
Steimle rückt in die erste Reihe

Radsport Für den Weilheimer geht mit dem Start am Sonntag bei der Flandern-Rundfahrt ein Traum in Erfüllung. Dem nächsten Sprung auf der Karriereleiter gingen Wochen harter Arbeit voraus. Von Bernd Köble

Sie zählt zu den fünf Monumenten des Radsports, hat Millionen Fans, ein eigenes Museum und wie Weihnachten einen festen Platz im Kalender. Wenn halb Belgien  am ersten April-Wochenende kopfsteht, Hundertausende die Straßen säumen und das Bier in Strömen fließt, dann rollt die Flandern-Rundfahrt durchs Land. Diesmal mit im Feld: ein junger Weilheimer, der tags darauf seinen 26. Geburtstag feiert. Für Jannik Steimle ist sein Debüt an diesem Sonntag beim populärsten und bedeutendsten Frühjahrsklassiker ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk und der nächste Höhepunkt seiner steilen Karriere.

Geschenkt bekommen hat er diesen Ritterschlag nicht. Dass er bereit ist für größere Aufgaben, dass er die Leidensfähigkeit für ein solches Rennen mitbringt, hat er in den vergangenen Wochen wiederholt gezeigt. Am Mittwoch bei Dwars Door Vlaanderen, das als Generalprobe für die Flandern-Rundfahrt gilt, hat Steimle beim Sieg des Niederländers Matthieu van der Poel wie gewohnt Verfolgergruppen organisiert, nach Stürzen Lücken geschlossen und war am Ende als 14. bester Fahrer bei Quick-Step Alpha Vinyl.

 

Das Rennen hat einen höheren Stellenwert für mich als die Tour.
Jannik Steimle Der Weilheimer blickt mit Freude und Respekt auf sein Debüt bei der Flandern-Rundfahrt.

Sich dem Mannschaftsziel unterordnen und dennoch zeigen, dass man mehr draufhat, dieser Spagat ist ihm in dieser Saison bisher geglückt. Jetzt steht Steimle am Sonntag nicht nur erstmals bei der „Ronde van Vlaanderen“ am Start, er ist bei Quick-Step auch erste Wahl beim Amstel Gold Race am Sonntag darauf. Für Paris-Roubaix eine Woche später haben die Sportlichen Leiter ihr Programm noch nicht festgezurrt, doch auch dort zählt der Weilheimer als möglicher Kandidat. 

Es ist im bisher weltbesten Team der Sprung in die erste Reihe, das sagt er selbst. Als ihn die Nachricht am Dienstagabend kurz vor dem Zubettgehen erreichte, war die Freude größer als die Überraschung. „Ich denke, ich habe zuletzt gute Werbung für mich gemacht“, sagt er. „Die letzten Wochen waren nicht immer einfach, aber das Team hat gewusst, was ich kann.“ Zum ersten Mal nach zwei Jahren bekommt er nun die Chance, sich darin zu beweisen, was ihm von Beginn an zugedacht war. Doch dann kam Corona und die Frühjahrsklassiker verschwanden vom gewohnten Platz im Kalender, im Folgejahr war das erste Saisondrittel nach seinem schweren Sturz gelaufen. 

Jetzt ist der Respekt mindestens genauso groß wie die Freude. Die 272 Kilometer lange Hatz durchs flämische Hügelland, vom Start auf dem Marktplatz in Antwerpen bis zum Ziel in Oudenaarde, gilt als eine der schwersten Prüfungen, die der Radsport kennt. Sieben Kopfsteinpflaster-Passagen und 18 brutal steile Kurzanstiege – sogenannte Hellinge – stellen sich den Fahrern in den Weg. Mit Namen, die in Radsportkreisen als heilig gelten: Oude Kwaremont, Paterberg oder Koppenberg. Schmal, holprig, bis zu 22 Prozent steil und gesäumt von Menschenmassen in Volksfeststimmung. Wer in der mehr als hundertjährigen Geschichte der Flandern-Rundfahrt hier dabei sein durfte, gehört zu den ganz Großen in diesem Sport. Wer hier gar gewinnt, hat einen Platz in den Geschichtsbüchern sicher.

Asgreen steht im Fokus

Den, der im Vorjahr auf dem Olymp stand, soll Steimle diesmal heil über die Berge geleiten. Sein dänischer Teamkollege Kasper Asgreen, Überraschungssieger 2021, bildet zusammen mit dem Franzosen Florian Senechal, das Duo, auf das bei Quick-Step das Rennen zugeschnitten sein wird. Für Steimle heißt das: „So gut wie möglich auf Kasper aufpassen und ihn zur richtigen Zeit am richtigen Ort abliefern.“ So beschreibt er selbst seine Aufgabe am Sonntag. Eine Aufgabe, die viel Verantwortung bedeutet, denn das Frühjahr als wichtigste Zeit des Jahres lief beim erfolgsverwöhnten Rennstall aus Belgien diesmal alles andere als planmäßig. Bei keinem der bisherigen Eintagesrennen im Stammland der 30-köpfigen Equipe um den amtierenden Weltmeister Julian Alaphilippe stand bisher ein Quick-Step-Fahrer auf dem Podium. Jetzt beginnt im April die heiße Phase, in der sich ein legendäres Rennen an das andere reiht. Im April leer auszugehen – für Teamchef Patrick Lefevere undenkbar.

Eine Last, die auch Spaß machen kann. Worauf er sich am meisten freut? „Auf den Paterberg“, sagt Jannik Steimle. Ein Bekenntnis, aus dem viel Selbstvertrauen spricht. Es ist der letzten Anstieg, 13 Kilometer vor dem Ziel, wo auf einer Länge von nur 400 Metern zehntausend Fans Spalier stehen. Ein ohrenbetäubendes Inferno, das die Fahrer die Qual des 20 Prozent steilen Kopfsteinpflasters für einen Moment vergessen lässt. Bis Sonntag bleibt wenig Zeit, sich zu erholen. Gestern rollte der Teambus in Richtung Antwerpen, wo Quick-Step am Rande der Stadt ein ganzes Haus gemietet hat. Am Sonntag um 10 Uhr beginnt mit dem Startschuss auf dem Marktplatz für Jannik Steimle ein neues Kapitel. Er sagt: „Ich bin bereit.“

Info: Eurosport überträgt die Flandern-Rundfahrt am Sonntag live ab 10.30 Uhr. Das ZDF bietet ab 17.10 Uhr eine Zusammenfassung des Rennens.

Bis zu 6000 Kalorien in sechs Stunden

Essen bis der Magen platzt und dabei nicht zunehmen – was für manchen Normalbürger paradiesisch klingt, will von Radprofis gut geplant sein. Bis zu 6000 Kalorien verfeuern die Topfahrer bei der knapp mehr als sechsstündigen Flandern-Rundfahrt.
Für Jannik Steimle heißt das: Bereits früh beginnen, damit reinpasst, was am Ende gebraucht wird. Schon am Vortag des Rennens laden die Fahrer ihre Akkus mit drei opulenten Hauptmahlzeiten und kleineren Zwischengängen am Nachmittag auf. Für die Verpflegung sorgt die eigene Teamküche.
Hausgemachte Marmelade von daheim darf beim Weilheimer neben Müsli mit Obst zum Frühstück dennoch nicht fehlen. Am Mittag und Abend stehen drei bis vier Gänge mit Suppe, Fisch oder Fleisch, jeder Menge Nudeln oder Kartoffeln und Gemüse auf dem Plan. „Einfach essen, was reinpasst“, sagt Jannik Steimle, der mit seinen 1,87 Metern Körpergröße 74 Kilo auf die Waage bringt.
Um durchs Rennen zu kommen, genügt das nicht. Energiereiche Gels verpflegen die Fahrer konstant während der Fahrt. Wer zu essen und zu trinken vergisst, wird hart bestraft. Dem droht am Ende der gefürchtete Hungerast. bk