Jens Voigt weiß, was Kampf bedeutet, und er weiß, wann’s weh tut. Früher war er das Gesicht aus der Abteilung Attacke. 17 Mal war er bei der Tour de France am Start. Heute erklärt der 49-jährige Mecklenburger den Fernsehzuschauern bei Eurosport, warum ein Rennen so läuft, wie es läuft. Ob er sich am vergangenen Dienstag auf der siebten Etappe der Vuelta im schmerzverzerrten Gesicht eines 24-Jährigen wiedererkannte, hat er nicht verraten. Voigts Verneigung vor einem Debütanten, der an der Spitze des Verfolgerfeldes über 80 Kilometer die Pace machte und so dafür sorgte, dass seine beiden Teamkollegen Andrea Bagioli und Mattia Cattaneo am zweiten Berg Anschluss an die Spitzengruppe fanden - das sind Momente, für die einer wie Jannik Steimle lebt.
Nach zwei extremen Wochen und einer kurzen Krise ist er angekommen bei seiner ersten Grand Tour. Kein Einrollen, zwei Wochen am Anschlag, mit ständig wechselnden Attacken an den Steilrampen von Pyrenäen und kantabrischem Küstengebirge - die ersten zwölf Etappen der Spanien-Rundfahrt haben in ihrer Intensität viele Experten überrascht. Und nicht nur die: „Am Anfang dachte ich, was geht denn hier ab“, sagt Jannik Steimle, der im September noch die viertägige Slowakei-Rundfahrt gewonnen hatte und sich nun fragte: Wie bitte schön soll das drei Wochen lang gut gehen? Es geht. „Es ist brutal hart, aber inzwischen fühle ich mich von Tag zu Tag besser“, sagt der Weilheimer, der sich zunehmend an den Rennrhythmus gewöhnt.
An diesem Montag, dem zweiten Ruhetag, hockt er nach neunstündigem Tiefschlaf um halb zehn mit seinen Kollegen beim Frühstück im Teambus. Es gibt Müsli und Pancakes, so wie fast jeden Tag. Geredet wird wenig. Die Gesichter sind gezeichnet von den Strapazen. Die gestrige Etappe lässt sich nicht so einfach aus den Kleidern schütteln. Zwölf Kilometer lang, bis zu 24 Prozent steil - der Schlussanstieg hinauf zum Alto de l’Angliru gehört zum Schwersten, was die Spanien-Rundfahrt und der gesamte Radsport in Europa zu bieten hat. Ein Berg, so steil, dass gestandene Profis zum Zickzackkurs wechseln. Steimles Mannschaftskollege Mattia Cataneo hielt lange Zeit Anschluss an die Spitzengruppe, die nach und nach zu bröckeln begann, und war mit Platz 21 Teamschnellster an diesem Tag. Steimle kam im 30-köpfigen Grupetto mit 29 Minuten Rückstand auf Sieger Hugh Carthy ins Ziel. Ein Ergebnis, das keinen interessierte. An diesem Tag zählte nur eines: ankommen innerhalb der vorgegebenen Karenzzeit.
Den Ruhetag haben alle herbeigesehnt. Vom Mannschaftshotel in La Coruna rollt die mobile Teamzentrale des belgischen Rennstalls am Vormittag zum Startpunkt des heutigen Einzelzeitfahrens in Muros (siehe Info). Streckenbesichtigung auf dem Rad, danach zurück ins Hotel. Mittagsschlaf, Physiotherapie und Massage, Abendessen, Bettruhe. Morgen tickt die Uhr. 33,2 Kilometer lang ist der flache Zeitfahrkurs mit einem kurzen, aber heftigen Schlussanstieg. Jannik Steimle wird um 14.50 Uhr von der Startrampe rollen. Eigentlich eine Disziplin, die ihm liegt. Sieben Wochen ist es her, da hat er das Einzelzeitfahren bei der Slowakei-Rundfahrt gewonnen. Die Gegner hier sind von anderem Kaliber. Für den Gesamtzweiten Primosz Roglic ist es die große Chance, das rote Trikot vom Ecuadorianer Richard Carapaz zurückzuerobern. Für Steimle ist es das längste Zeitfahren seiner bisherigen Karriere und eines, das schwer einzuordnen ist. „Topfflach wäre mir lieber gewesen“, meint er mit Blick auf die knapp zwei Kilometer lange Kletterei am Ende. Bis dahin heißt das Motto: „All in.“ Steimle: „Entweder mich zerreißt’s an der Rampe oder es passt.“
Das führende Team in der World Tour hat schon jetzt seinen Frieden mit der Vuelta geschlossen. Die Chancen stehen gut, dass der Tross trotz Corona am 8. November Madrid erreicht. Ein Etappensieg durch den Iren Sam Bennett, ein Podiumsplatz durch Nachwuchsprofi Andrea Bagioli - das Minimalziel der Belgier, die ohne Klassementfahrer angereist sind, ist damit erreicht. Für Jannik Steimle bietet sich in der Schlusswoche noch einmal die Chance, sich im Feld zu zeigen. „Das Profil der nächsten Etappen kommt mir entgegen“, sagt er. „Die Beine sind gut. Mal schauen, was geht.“