Nokere. Ausgerechnet Nokere. In der Psychologie gibt es die Konfrontation als Therapieform. Radprofis ticken oft anders. Wie Jannik Steimle tickt, wird sich wohl erst am 16. März zeigen, wenn er an jener Stelle vorbeirast, die ihm vor neun Monaten um ein Haar Gesundheit und Karriere gekostet hätte. Den Kurs, auf dem er in Belgien in einen Holzzaun krachte, hat er 2022 wieder im Programm, und Steimle geht auf seine ganz eigene Art damit um. Er habe keinerlei Erinnerung an diesen Tag, daher sei es für ihn ohnehin ein Neustart, meint er. „Vielleicht finde ich dort ja meine Brille wieder.“
Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht. Dabei ist das knüppelharte Rennprogramm, das den Weilheimer in der wohl wichtigsten Saison seiner bisherigen Karriere erwartet, alles, bloß keine Lachnummer. Los geht es schon im Februar mit zwei fünftägigen Rundfahrten, in Saudi-Arabien und der Ruta del
Steimle hat sich viel vorgenommen im neuen Jahr. Am Montag dieser Woche geht es mit der Mannschaft ins erste Trainingslager nach Spanien. Im Januar will er im Windkanal des US-Teamausstatters Specialized in Colorado seine Zeitfahrposition optimieren. Ein wichtiges Thema mit Blick auf den Mai, wenn er beim Giro sein Debüt geben soll. Die Italien-Rundfahrt hat im nächsten Jahr zwei kurze Einzelzeitfahren im Programm – Steimles Paradedisziplin.
Die Erwartungen sind größer als je zuvor, die Chancen zahlreich. Er will nach einer Saison mit schweren Verletzungen und zahlreichen Knochenbrüchen zeigen, dass er den Mund im Sommer nicht zu voll genommen hat. Da kam er früher und stärker zurück, als alle erwartet hatten. Trotzdem musste er sich in Rennen wie der Deutschland-Tour der Teamorder fügen und eigene berechtigte Ansprüche hintanstellen. Dass er seinen Ärger darüber offen zur Sprache brachte, hat nicht jedem im Team gefallen, auch wenn man beim belgischen Branchenführer genau das erwartet: Fahrer, die für den Erfolg brennen. „Dass ich trotz der schwierigen Saison die Chance für zwei weitere Jahre bekommen habe, hat Gründe“, meint Steimle selbstbewusst. Soll heißen, dass man ihm zutraut, dass er den Sprung in die erste Reihe schafft. Wo es nicht mehr nur darum geht, anderen den Weg zu ebnen, sondern alles selbst auf eine Karte zu setzen. Er ist nicht der Typ, der ein Sportlerleben lang als Helfer unterwegs sein will, wie er selbst sagt.
Die Qualität, die Voraussetzungen dafür hat er. Als der Idealtyp des Kämpfers, des Ausreißers, der Attacken zu Ende bringen kann, der in der Ebene lange Zeit hohe Wattzahlen treten kann und trotzdem gut über die Berge kommt. Qualitäten, die er nun im Rennen liefern muss. „Der Druck ist da“, meint der 25-Jährige. „Den brauche ich auch.“ Genauso wie er die harten Rennen im Frühjahr braucht, um in Form zu kommen.
Dabei heißt es, die selben Fehler nicht noch einmal machen. Er weiß: „Dass ich im Frühjahr gestürzt bin, hat auch damit zu tun, dass ich zu viel wollte, weil ich mich im Winter davor voll reingehängt hatte.“ Insofern kann Nokere Koerse am 16. März doch eine Art Therapie sein. Vorausgesetzt, er lässt den Holzzaun diesmal links liegen.